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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Zenit seines Ruhmes. Staatsmänner aus aller Welt huldigen ihrem Kollegen in Glückwunschtelegrammen, und Blätter wie die «New York Times» würdigen seine Verdienste mit wahren Elogen: Glaubwürdiger als irgendjemandem sonst, schreibt die Zeitung, sei es dem lauteren Sozialdemokraten gelungen, «das Bild eines dem Neonazismus zuneigenden und nach Revanche dürstenden Deutschlands auszulöschen».
    Einige Wochen lang hat es danach den Anschein, als sei Willy Brandt nun ähnlich unangreifbar geworden wie der Gründervater der Republik, Konrad Adenauer, zu seinen besten Zeiten – doch der Eindruck täuscht.

    Denn so souverän der Entspannungspolitiker seines Geschicks wegen vor allem im Ausland die Schlagzeilen beherrscht, so wenig Anklang findet im Vergleich dazu der selbsternannte «Kanzler der inneren Reformen». Obschon die Koalition etwa im Steuer- und Arbeitsrecht oder insbesondere auf dem zuvor sträflich vernachlässigten Bildungssektor durchaus ermutigende Ergebnisse vorweisen kann, sieht sie sich von Anfang an unter erheblichem Rechtfertigungszwang – und das nicht zuletzt auch aus eigenem Verschulden. An den vorher in Umlauf gesetzten vollmundigen Versprechen gemessen, wirken viele der von ihr auf den Weg gebrachten Innovationen enttäuschend glanzlos.
    Da der Regierungschef weiß, wie sehr seine Partei danach lechzt, ihre Gestaltungsmacht moralisch zu begründen, lässt er sich ein über das andere Mal zu strammen Verlautbarungen hinreißen. So möchte er zum Beispiel die Bundesrepublik zum humanitären «Modellstaat» für eine künftige Europäische Union ausbauen und muss sich dann doch immer wieder mit kleinen und kleinsten Schritten begnügen. Das Kabinett seines Vorgängers, lästert der zweite sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt zu Beginn seiner eigenen Amtszeit, habe in anderthalb Legislaturperioden «ein ganzes Jahrhundert in die Schranken zu fordern versucht und sich schwer verhoben».
    Dass man der Auflösung des allgemeinen Reformstaus mit «zu viel Euphorie» begegnet sei, um so zum Opfer der eigenen, deutlich überzogenen Erwartungen zu werden, will in der Rückschau auch der quirlige Ideenproduzent Horst Ehmke nicht bestreiten. Für einen der gröbsten Fehler hält er die zunächst einmal von ihm selber herbeigeredete Hybris, die Liaison seiner Sozialdemokraten mit der FDP zum «historischen Bündnis» zu verklären – ein schöner Wunschtraum von einem geschichtlich gleichsam determinierten Pakt zwischen Arbeitnehmerschaft und liberalem Bürgertum, der schon allein an der weltwirtschaftlich schwierigen Lage scheitert. Die zum Zeitpunkt des Machtwechsels ökonomisch gesunde Bundesrepublik leidet zusehends unter den Zahlungsbilanzdefiziten der in Vietnam engagierten Vereinigten Staaten, die in Europa die Inflation anheizen und Bonn zu konjunkturdämpfenden Maßnahmen zwingen. Für die angekündigten, häufig kostspieligen Investitionen fehlen unter diesen Bedingungen schlicht die Mittel.
    Nachdem die Wirkung der von Karl Schiller durchgesetzten Aufwertung der D-Mark binnen weniger Monate verpufft ist, bemüht sich das sozialliberale Führungsteam, der Misere mit Haushaltsrestriktionen und der Verabschiedung eines Stabilitätspakets entgegenzutreten, was dann allerdings die ursprünglich hochgelobte Eintracht unter den Ressortleitern erheblich belastet. Zähe Verteilungskämpfe gehören nun zum Tagesgeschäft, und die ufern umso mehr aus, als sich der Kanzler dabei weitestgehend zurücknimmt. Menschen zu schurigeln, die es immerhin bis zum Kabinettsmitglied gebracht haben, widerspricht seiner Natur.
    Darüber hinaus schleicht sich bei politischen Beobachtern bald der Verdacht ein, dass sich Willy Brandt nur bedingt für die Entwicklung der heimischen Wirtschaft interessiert. Bereits sechzehn Monate nach seiner Wahl nennt ihn der Chefredakteur des «Spiegel», Günter Gaus, respektlos einen «fürs Innere» kaum zu erwärmenden «Teilkanzler», und als es Anfang Mai 1971 zum ersten Eklat kommt, scheint sich dieser Befund zu erhärten. Da wirft der sichtlich strapazierte Alex Möller auch deshalb entnervt das Handtuch, weil er sich allein auf weiter Flur wähnt.
    Die Geschwindigkeit, mit der sich der offenkundig konfliktscheue Regierungschef von diesem anerkannten Finanzexperten und maßgeblichen Geburtshelfer der Koalition trennt, ist in der Tat frappierend. Obwohl es ihm sonst schwerfällt, in Personalfragen kaltschnäuzig Schlussstriche zu ziehen, reagiert er auf den Rücktritt

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