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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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ins Ungewisse: Das zweite Treffen Brandts mit Stoph endet 1970 mit einem frostigen Abschied auf dem Bahnhof in Kassel.
    Überdies fällt es dem unprätentiösen Freigeist nicht schwer, dem Vordenker des Entspannungskonzepts, Egon Bahr, eine Sonderrolle zuzugestehen. Bereits seit Ende Januar 1970 sondiert der engste Mitstreiter des Kanzlers in Moskau beim sowjetischen Außenamtschef Andrej Gromyko Chancen und Risiken eines Abkommens, das offiziell angeblich nur dazu dienen soll, den Gewaltverzicht zwischen beiden Seiten festzuschreiben. Dass die sozialliberale Koalition mit diesen Verhandlungen indessen sehr viel weiter gehende Absichten verfolgt, deutet Willy Brandt vor seinem zweiten Treffen mit Stoph in einem «Spiegel»-Gespräch an: Natürlich stehe in Moskau mehr auf der Agenda, als lediglich eine im Grunde «abstrakte» Vereinbarung zu unterzeichnen. So zweifelsfrei er darauf bestehe, dass den gewachsenen Bindungen zwischen der Bundesrepublik und Westberlin Rechnung getragen werde, so zwangsläufig sei es, den Vertrag auch sonst «auf konkrete Tatbestände zu beziehen – zum Beispiel auf die konkreten Grenzen in Europa».
    Das ist bei allen diplomatisch verbrämten Windungen, die das Interview schwer lesbar machen, eine im Kern kaum noch verhüllte Sensation: Zum ersten Mal nach zwei Jahrzehnten fruchtloser Fixierung auf juristische Wortklauberei zeigt sich ein Bonner Regierungschef bereit, die aus dem verlorenen Weltkrieg resultierenden territorialen Verluste hinzunehmen. Ohne Berührungsängste über die «zeitgemäße Landkarte» sprechen zu wollen, kann nur heißen, sie bis auf weiteres so zu akzeptieren, wie sie sich für die Deutschen «aus dem nationalen Verrat durch das Hitler-Regime ergeben hat» – und in diesem Sinne verhandelt nun sein Sonderbeauftragter in der UdSSR.
    Im Bewusstsein ihrer äußerst knappen Mehrheit, die sie in künftigen Wahlen mit möglichst positiven Schlagzeilen zu stabilisieren hofft, setzt sich Brandt gewaltig unter Erfolgsdruck. Während die Deutschlandpolitik seit der Gründung der beiden Teilstaaten auf der Stelle trat, möchte er jetzt binnen weniger Monate den Durchbruch erzwingen – für Egon Bahr ein höchst problematischer Job. Mehr als fünfzig Stunden lang ringt er mit dem versierten Gromyko, der selbst innerhalb der sowjetischen Führung als Hardliner gilt, um einen Modus vivendi. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen, die den Frieden auf dem Kontinent sicherer machen sollen, fassen die Emissäre Ende Mai in einem streng unter Verschluss gehaltenen Protokoll zusammen, das aber schon bald der Presse zugespielt wird.
    Die Bundesrepublik verpflichtet sich darin, «die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten» und weder jetzt noch in Zukunft «gegen irgendjemand» Gebietsansprüche zu erheben – die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsche Ostgrenze ist in dieser Abmachung ausdrücklich inbegriffen. Von den bisher verfochtenen Maximen Bonner Politik, vorweg dem Beharren auf Wiedervereinigung, steht in dem Papier dagegen kein einziges Wort.
    Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Textes in der «Bild»-Zeitung bricht am rechten Rand des konservativen Lagers ein Sturm der Entrüstung los. Während sich besonnene Christdemokraten wie der Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel oder Richard von Weizsäcker auffällig zurückhalten, geißelt Franz Josef Strauß den Kabinettschef als «Kanzler des Ausverkaufs», und in der FDP geht nun erstmals das Gespenst der Spaltung um: Scheels schärfste Widersacher, die Abgeordneten Erich Mende und Siegfried Zoglmann, gründen spontan eine «Nationalliberale Aktion».
    Doch die damit am seidenen Faden hängende Regierung lässt sich nicht entmutigen. Nachdem es ihrem Außenminister in mühsamen Nachverhandlungen gelungen ist, dem Vertragswerk einen von der Sowjetunion akzeptierten Brief hinzuzufügen, der der Bundesrepublik das Recht einräumt, «auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt», reist Brandt mit großem Gefolge zu seinem Amtskollegen Alexej Kossygin und unterschreibt. Wie er noch im hohen Alter gerne erzählt, fühlt er sich selten mehr mit sich im Einklang als an jenem 12. August 1970.
    Zwar wird ihm später immer mal wieder angelastet, er habe allzu schnell und beflissen unveräußerliche Faustpfänder aufgegeben, ohne entsprechende Gegenleistungen zu erhalten, aber

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