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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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diskreditiert schließlich seine Ostpolitik mehr als die provozierende Sorglosigkeit, in der vor allem die leninistische, sogenannte Stamokap-Fraktion der Jusos die Verhältnisse in der Bundesrepublik anprangert und sich demonstrativ an die DKP anlehnt. Wer sich zu den Kommunisten an den Verhandlungstisch setze, befördere im eigenen Land zwangsläufig eine «Volksfront»-Strategie, erregt sich Franz Josef Strauß und trägt damit spürbar zur Verunsicherung in der Koalition bei.
    Die Attacken des CSU-Chefs sind umso wirksamer, als die in der Sache unvermeidliche «Geheimdiplomatie» Egon Bahrs im Zusammenhang mit den Vereinbarungen in Moskau und Warschau den Verdacht der Kungelei zu rechtfertigen scheint. Vor den Landtagswahlen im Sommer 1970, bei denen nahezu jeder zweite Bundesbürger seine Stimme abgeben kann, schwappt deshalb eine Welle des Misstrauens über die Regierung Brandt/Scheel hinweg. Allerorten gewinnen die Christdemokraten deutlich an Boden, das ohnehin schon schmalbrüstige Bonner Bündnis leidet dagegen in erster Linie unter der eklatanten Schwäche der Liberalen. Die fliegen in Niedersachsen und an der Saar mit jeweils 4,4 Prozent aus den Parlamenten und kommen im bevölkerungsreichen Schlüsselland Nordrhein-Westfalen gerade noch mit einem blauen Auge davon.
    Unterdessen fühlt sich der Kanzler «wie auf einer Achterbahn». Während ihm die Verträge mit der Sowjetunion und Polen international hohes Ansehen bescheren, häufen sich daheim die Rückschläge. Kaum ein Tag vergeht, an dem sein einstiger Schutzpatron Axel Springer nicht schwerste Geschütze auffährt, um ihn mal unverblümt der Abkehr von den Vereinigten Staaten, mal des Aufbaus einer sozialistischen Republik zu bezichtigen. Dass sich im Herbst die FDP-Dissidenten Siegfried Zoglmann, Erich Mende und Heinz Starke als Hospitanten der Oppositionsfraktion anschließen und die Mehrheit der Koalition im Bundestag damit empfindlich zusammenschmilzt, passt da voll ins Bild.
    Angesichts dieser Erosion verwundert es kaum, dass sich der neue starke Mann der Union, der im christlichen Parteienverbund mittlerweile dominierende Rainer Barzel, ab Spätsommer 1971 Chancen auf einen vorzeitigen Machtwechsel ausrechnet. In der Hoffnung, den als innenpolitischen Reformer hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Sozialdemokraten aus dem Amt verdrängen zu können, hat ihn die CDU mit dem Segen des Bayern Franz Josef Strauß bereits nach knapp zwei Jahren Brandt’scher Regentschaft zum offiziellen Herausforderer gekürt – in der Bonner Nachkriegsgeschichte ein Novum.
    Doch der Kanzler bewahrt die Nerven. Er wolle nicht rundweg bestreiten, räumt er damals in einem Interview mit dem Hamburger Magazin «Stern» freimütig ein, dass die Koalition auf den Feldern des Wirtschaftlichen und Sozialen da und dort «auch gewurstelt» habe, aber im Großen und Ganzen sei er mit sich im Reinen. Sofern ihm die Verhältnisse das unbedingt abverlangten, verkündet er nach der Unterzeichnung des Berlin-Abkommens selbstsicher, werde er seine Ost- und Entspannungspolitik «notfalls mit nur einer Stimme Mehrheit» verteidigen.
    Zwischen den Hiobsbotschaften, die das jähe Ende seiner Karriere anzukündigen scheinen, und einer «von niemandem für möglich gehaltenen Wiederaufstehung», wie sich danach der Parlamentspräsident Kai-Uwe von Hassel mokiert, liegen in jenem ereignisreichen Herbst bloß Tage. Am 5. Oktober trägt der erzkonservative Christdemokrat noch entscheidend zum Durchbruch Rainer Barzels bei, als er auf einem Parteitag seiner CDU leidenschaftlich für «die in einer Person konzentrierte höchste Autorität» plädiert, um nur zwei Wochen später dem ungeliebten Amtsinhaber Reverenz erweisen zu müssen: Da platzt die Meldung von dessen Nobelpreis mitten in eine Haushaltsdebatte hinein, und ihm, einem der erbittertsten Gegner der sozialliberalen Entspannung, bleibt nichts anderes übrig, als den ungeliebten Regierungschef für sein «aufrichtiges Bemühen um den Frieden in der Welt» zu loben.

    Nach Gustav Stresemann, Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky ist Willy Brandt der vierte Deutsche, der sich im Glanz der mit Abstand bedeutendsten aller Ehren sonnen darf und damit unvermittelt zum nahezu unangreifbaren Staatsmann avanciert. «In der politischen Pfingstzeit der frühen siebziger Jahre wurde er durch die ostpolitischen Pläne, die er verfolgte, für Hunderttausende von jungen Leuten und für einen Großteil der bundesdeutschen Intellektuellen»,

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