Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
ihre Mutter bei einem Bauern im Münsterland gearbeitet. Sie war etwas gestört, wurde von Angstzuständen geplagt, redete manchmal konfus und hatte wohl auch Halluzinationen. Heute und in einer Großstadt würde man von einer Borderlinerin sprechen und einen Psychologen oder Psychotherapeuten konsultieren. Aber die Bauernfamilie und die Eltern von Toris Mutter waren gläubige Katholiken. Wenn es Probleme gab, sprach man mit dem Pfarrer.
Eines Tages brach im Schweinestall des Bauern eine Seuche aus. Für die Bäuerin war klar, wer daran die Schuld trug. ›Sie hat die Schweine verhext‹, erzählte sie im Dorf. Der Pfarrer wandte sich an einen Fachmann, den für Exorzismus zuständigen Priester des Bistums. Der brachte einen Kollegen mit, und gemeinsam nahmen sie die Teufelsaustreibung vor. Toris Mutter behauptete später, dass sie von den Priestern unsittlich berührt worden sei. Auf jeden Fall ging es ihr nach dem Exorzieren schlechter als vorher. Sie flüchtete in die Stadt, kam unter die Räder, bis sie von der Polizei aufgegriffen und von einem Arzt in die Psychiatrie eingewiesen wurde.
»Sie hat sich bis heute nicht davon erholt«, sagte Tori. »Immer wieder wird sie von den Erlebnissen eingeholt. Dann ist sie ein paar Tage lang wie gelähmt, nicht ansprechbar. Nur mithilfe von Medikamenten kommt sie wieder zu sich. Und das werfe ich den Priestern vor, genauer gesagt, der Kirche, denn die Exorzisten haben nur ihren Job gemacht.«
Ich gab ein Brummen von mir, das nach Zustimmung klingen sollte. »Ich kann mir vorstellen, dass alle, die beim Kommando mitmachen, solche Geschichten im Gepäck haben.«
Sie tauchte aus ihren Erinnerungen auf und rieb sich das Gesicht. »Du willst mich aushorchen, Georg Wilsberg. Du denkst wohl, du hast mich weichgeklopft. Aber da hast du dich geschnitten.«
Sie stand auf und stellte sich ans Fenster, mir den Rücken zukehrend. »Die anderen haben auch ihre Gründe, wie ich schon sagte. Wenn sie den Zeitpunkt für richtig halten, wirst du sie erfahren, nicht früher.« Sie drehte sich um und ging langsam an mir vorbei. »Und jetzt wünsche ich dir eine gute Nacht.«
»Was ist mit dem Eimer?«, fragte ich.
»Ach ja, der Eimer. Außerdem könnte ich dir einen Frauenkrimi anbieten.«
Ich stöhnte. »Besser als nichts.«
VII
Ich verbrachte drei Nächte und drei Tage in dem Zimmer. Es war nicht so schlimm wie Isolationshaft, aber auch kein Pensionsaufenthalt. Zwei Stunden pro Tag wurde ich abgekettet und durfte, unter der Bewachung von zwei Kapuzenmännern, die an der Tür stehen blieben, meinen Blutkreislauf in Gang bringen. Den Frauenkrimi hatte ich schon nach einem halben Tag ausgelesen, und in den Tageszeitungen, die mir Tori brachte, las ich alles außer den Todesanzeigen.
Tori blieb meine einzige Gesprächspartnerin. Sie war tatsächlich zu Dr. Sommer nach Telgte gefahren und hatte mir die Medikamente, in der Hauptsache homöopathisches Zeugs { 4 } , besorgt. Sie war sehr nett, obwohl sie darauf achtete, mir keinerlei verwertbare Informationen über sich und die anderen Mitglieder des Kommandos Jan van Leiden zu geben. Sie verriet mir nur, dass sie einen weiteren Brief an das Bistum geschrieben hatten, in dem sie sich über den Beschiss bei der Geldübergabe beschwerten und mit weiteren Anschlägen drohten.
Ich wollte wissen, was sie mit dem Geld vorhatten, und sie erzählte, dass sie eine Art Stiftung für die Opfer kirchlicher Willkür planten, so was Ähnliches wie der Weiße Ring, der die Opfer krimineller Gewalttaten unterstützt.
Am Abend des zweiten Tages bekam ich einen Lagerkoller. Ich fing an zu schreien. Sie sollten endlich eine Entscheidung treffen, mich entweder erschießen oder mir die Freiheit geben. Ich hätte jedenfalls keinen Bock mehr, weiter auf dem Bett zu liegen wie ein Motorradfahrer nach einer Begegnung mit einem Laster.
Tatsächlich wurde mir schmerzlich bewusst, was mir alles fehlte. Vor allem ein Besuch im Alcatraz, aber auch meine Wanderungen durch Münsters Innenstadt, die Möglichkeit, in meine Küche zu gehen und mir einen Espresso zu machen, vor der Terrassentür zu stehen und mit stumpfen Blicken meinen verlotterten Garten zu betrachten, oder auch nur fünf Stunden im Sessel zu hocken und einen dieser sagenhaften Davis-Cup-Krimis zu verfolgen.
Tori reagierte gelassen. Sie könne mich verstehen blabla, aber leider seien sie noch nicht so weit. Es würde allerdings nicht mehr lange dauern blabla.
»Was ist denn daran so schwierig?«,
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