Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
arbeite ich als Putzfrau. Ich habe in einem katholischen Kindergarten gearbeitet. Der wird von einer Nonne geleitet. Vor zwei Jahren habe ich meinen Mann, meinen jetzigen Mann kennengelernt. Er ist zehn Jahre älter als ich. Er ist katholisch. Er hatte bereits eine Ehe hinter sich. Verstehen Sie, er ist ein geschiedener Mann. Vor einem Jahr sind wir zusammengezogen. Wir haben nicht gleich geheiratet. Ich habe versucht, es geheim zu halten, meinen Kolleginnen, vor allem der Leiterin habe ich nichts davon erzählt. Aber irgendwie ist es herausgekommen. In jedem Betrieb wird getratscht. Die Nonne hat meine Kündigung in die Wege geleitet. Als ich eingestellt wurde, musste ich mich verpflichten, nach bestimmten moralischen Grundsätzen zu leben. Dazu gehört, nicht mit einem geschiedenen Mann zusammenzuleben. Nach katholischem Recht ist seine alte Ehe noch gültig. Was wir machen, ist Sünde. So, das war's.«
»Ich bin Arzt«, sagte eine andere männliche Stimme. »Im Gegensatz zu meiner Vorrednerin arbeite ich noch in meinem Beruf. Ich bin in einer Gemeinschaftspraxis untergekommen. Materiell habe ich dadurch keinen Nachteil erlitten, ich beklage mich nicht. Was mich aufregt, ist die Heuchelei des Systems. Ich war Oberarzt in einem Krankenhaus, einem katholischen Krankenhaus. Das einzige Krankenhaus weit und breit in einer ländlichen Region. Eines Tages wird ein Notfall eingeliefert, ein siebzehnjähriges Mädchen, das sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Es stellt sich heraus, dass sie im dritten Monat schwanger ist. Von einem verheirateten Mann, wie sie erzählt. Eine absolute Schande in dem Dorf, in dem sie lebt. Ihre Eltern wissen noch nichts von der Schwangerschaft, aber wenn sie es erfahren, werden sie sie verurteilen.
Als sie wieder auf dem Damm ist, rate ich ihr, den Fötus abtreiben zu lassen. Auf sich alleine gestellt, ohne abgeschlossene Berufsausbildung, wäre sie mit einem Kind hoffnungslos überfordert gewesen. Ich gebe ihr eine Adresse in Münster, eine Beratungsstelle, an die sie sich wenden kann. Bei diesem Gespräch ist eine Zeugin anwesend, eine Krankenschwester, die den Vorfall, wie sie es nennen, bei der Krankenhausleitung gemeldet hat. Ich konnte mir umgehend meine Papiere abholen.«
»Das soll fürs Erste genügen«, ergriff der Priester wieder das Wort. »Es sind Beispiele, die für uns alle sprechen. Jeder von uns ist irgendwann mit der Kirche in Konflikt geraten, für den einen hatte es schwerwiegende Folgen, für den anderen weniger bedeutsame. Ich zähle mich zu den Fällen, die nicht existenziell betroffen sind. Noch nicht. Wir haben uns zusammengetan, um unseren Protest zu manifestieren. Wir wollten ein sichtbares Zeichen setzen. Die Wiedertäufer sind dafür nur eine Metapher. Eine kleine Gruppe von Christen, die den Reichtum und die Verkommenheit der Kirche ablehnten, die, bei allen ihren Fehlern, zu den Wurzeln des Christentums zurückkehren wollten, zur Apostelgemeinschaft, zur klassenlosen Gesellschaft des Urchristentums.«
»Schön und gut«, sagte ich, »aber was ist, wenn Ihnen die Geschichte aus der Hand gleitet? Wenn bei Ihren Aktionen Menschen verletzt oder getötet werden?«
»Das liegt nicht in unserer Absicht. Und wir sind stolz darauf, dass bis jetzt niemand zu Schaden kam.«
»Zufall«, widersprach ich. »Als die Bombe in der Bistumsbank hochging, hätte auch jemand neben dem Papierkorb stehen können.«
»Nein. Wir haben den Ort genau beobachtet. Erst als wir sicher waren, dass sich kein Mensch im Raum befand, haben wir die Explosion ausgelöst.«
»Und wie soll's weitergehen?«
»Nun, wir werden unsere Arbeit fortsetzen, bis wir das Geld haben. Wenigstens ein Teil des Reichtums der Kirche soll dafür verwendet werden, den Benachteiligten zu helfen.«
»Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«, murmelte ich. Lauter sagte ich: »Wenn ich Marion richtig verstanden habe, darf ich jetzt gehen.«
»Ja. Marion wird Sie nach Hause bringen. Wir geben uns in Ihre Hand. Seien Sie ein anständiger Mensch.«
Ich stand auf. »Ich werde sehen, was sich machen lässt. Die Polizei wird mir ein paar knifflige Fragen stellen. Aber nach Lage der Dinge können sie mich nicht ewig festhalten.«
»Viel Glück«, wünschte mir der Mönch, und am Arm von Tori tappte ich nach draußen.
»Du kannst den Sack abnehmen«, sagte sie, als wir im Flur waren.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Auf dem Treppenabsatz neben der Haustür lagen ein paar Fotos. Sie zeigten die Auswirkungen
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