Wilsberg 08 - Das Kappenstein-Projekt
nebengelegenen Raum, das Schlafzimmer, wie ich vermutete. Mindestens dreißig Jahre alter Jazz plätscherte aus den Lautsprechern, und eine rauchige Frauenstimme sang Thanks For The Memory .
Als Rausch zurückkam, war sie völlig verändert. Das konservative Kostüm hatte sie gegen Jeans und Sweatshirt getauscht, die lang herabfallenden grauen Haare bedeckten ihren halben Oberkörper. In den Händen hielt sie eine Flasche Rotwein und zwei Gläser.
»Feierabend«, grinste sie. »Jetzt möchte ich kein Wort mehr vom Kappenstein-Projekt hören. Und vor allem brauche ich einen Schluck Rotwein. Sie nehmen doch sicher auch ein Glas? Ach!« Sie zuckte zurück. »Das habe ich ganz vergessen. Sie trinken ja keinen Alkohol. Was darf ich Ihnen anbieten?«
»Einen Saft, falls Sie einen im Haus haben, oder ein Glas Wasser.«
Sie brachte mir ein Glas Apfelsaft und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas. »Ah! Es gibt nichts Schöneres. Entschuldigen Sie!«
»Ich verstehe das durchaus«, sagte ich. »Das Problem ist nur: Ich würde sofort die ganze Flasche austrinken.«
»Dafür ist der Tropfen wirklich zu edel.« Sie hob ihr Glas. »Prost!«
Wir stießen an.
Sie lächelte. »Ich bin ein bisschen sarkastisch, ich weiß. Das habe ich häufiger nach solch langen Tagen. Und es gibt viele lange Tage in meinem Job. Wie hat Ihnen denn Ihr erster Arbeitstag gefallen?«
»Der Unterhaltungswert von politischen Diskussionen hält sich in Grenzen. Ich hoffe, ich muss mir nicht dauernd so etwas anhören.«
»Oh, da muss ich Sie enttäuschen. Morgen früh fahren wir nach Kappenstein. Da wird es ähnlich heiß hergehen wie heute Abend. Aber bei Gelegenheit nehme ich Sie mal mit auf einen Empfang, zu Sekt oder Orangensaft und Kanapees.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Eine fantastische Aussicht. Hauptsache, Ihnen macht das Spaß.«
»Spaß ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Die Arbeit einer Kämmerin besteht zu fünfzig Prozent aus Aktenstudium, dreißig Prozent nehmen Konferenzen und Empfänge ein, fünfzehn Prozent meiner Arbeitszeit gehen für Personalprobleme drauf, und in den restlichen fünf Prozent darf ich kreativ sein und eigene Ideen entwickeln.«
»Aber Sie haben es so gewollt.«
»Ich habe es so gewollt, ja.« Sie schlürfte genüsslich den Wein. »Und ich beklage mich nicht. Die viele Arbeit ist der Preis für ein gutes Gehalt und das Gefühl, ein bisschen an der Macht zu schnuppern.«
»Wie wird man eigentlich Kämmerin?«, fragte ich.
»Vor allem muss man eine Frau sein«, sagte sie spöttisch. »Gegner der Grünen behaupten, dass das schon ausreicht. Ist natürlich Quatsch. Auf der anderen Seite haben Frauen, die vor einer größeren Versammlung ohne zu stottern eine Rede halten können und die auch noch Sachkenntnis besitzen, die besten Chancen, bei den Grünen die Karriereleiter hinaufzufallen. Bei gleicher Qualifikation werden Frauen und Behinderte bevorzugt, wie es so schön heißt. Und ich habe einen Hochschulabschluss in Volkswirtschaft. Außerdem kann ich meinen Mund aufmachen, wie Sie gemerkt haben. Um ehrlich zu sein: Ich habe diese Karriere seit Langem geplant. Man braucht bei den Grünen nämlich noch etwas anderes: die richtige Vergangenheit.«
»Und wie sieht die aus?«
»Anti-Atom-Bewegung, Friedensbewegung, Parteiarbeit. Ich habe vor dem Schnellen Brüter in Kalkar demonstriert und am Zaun der geplanten Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf gerüttelt. Auf den Marschwiesen vor Brokdorf habe ich mir den kalten Wind um die Ohren pfeifen lassen, als Jo Leinen, der es immerhin zum saarländischen Umweltminister gebracht hat, auf dem Container stand und per Megafon zur Mäßigung aufrief. Ich habe mich an Menschenketten, an Ostermärschen und an Sitzblockaden vor Kasernen beteiligt. Ich bin wie viele andere wegen Nötigung verurteilt worden und habe das Urteil wie einen Orden getragen. Mit fünfhunderttausend Gleichgesinnten habe ich im Bonner Hofgarten gestanden, als Willy Brandt und Heinrich Böll redeten. Die Promis sonnten sich im Scheinwerferlicht, ich war die Basis. Ich habe Flugblätter verteilt, Busse gechartert, Ordner gespielt. Aber ich kannte viele Leute, und viele Leute kannten mich – als aufrechte Kämpferin für das Gute und gegen das Böse. Und als die Partei gegründet wurde – die Grünen, meine ich – war ich eine Frau der ersten Stunde. Wieder machte ich das, was ich konnte: Büchertische organisieren, Aktionstage, Wahlkämpfe. Und ich lernte, vor Versammlungen zu
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