Wilsberg 08 - Das Kappenstein-Projekt
länger man dabei war, desto schwieriger wurde der Ausstieg. Mit wem sollte man darüber reden? Zu wem konnte man gehen?«
Sie nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinglas. »Ich lebte damals in einer Wohngemeinschaft zusammen mit drei anderen Genossen, einer Frau und zwei Männern. Beziehungsmäßig lief nichts zwischen uns, trotzdem wussten wir jederzeit, was die anderen machten. Hätte einer von uns angekündigt, dass er aus der Partei austreten wollte, wäre das schlimmer gewesen als eine Ehescheidung. Manche zerbrachen an dem Druck. Sie begingen Selbstmord oder verschwanden plötzlich mitten in der Nacht. Flohen regelrecht in eine andere Stadt, nur mit ein paar Habseligkeiten, die sie in eine Tasche gepackt hatten. Denn allmählich musste jedem von uns klar werden, dass es in der Bundesrepublik keine revolutionäre Situation gab. Die Begeisterung, mit der wir am Anfang die Studenten auf Teach-ins oder Vollversammlungen mitgerissen hatten, war verflogen. Es war nicht zu übersehen, dass die Studenten unsere Flugblätter nicht mehr lasen, uns nicht mehr zuhörten. Die Arbeiter fingen an, uns zu beschimpfen. So entwickelte sich ein schizophrener Zustand. Unsere Partei wurde immer bedeutungsloser, und die Parteileitung feierte einen Erfolg nach dem anderen. Wenn wir bei einer Studentenparlamentswahl zwanzig Stimmen mehr als der KSV bekamen, war das ein Erfolg. Wenn wir in einem Monat fünf Zeitungen mehr verkauften als im Vormonat, war das ein Erfolg. Das Politbüro, die Leute an der Spitze beschäftigten sich nur noch damit, die Partei am Leben zu erhalten. In gestanzten, trockenen Erklärungen gaukelten sie uns eine Welt vor, die es nicht gab. Vielleicht täuschten sie sich auch selbst. Sie zogen ihr Selbstbewusstsein schließlich daraus, Berufsrevolutionäre zu sein. Und außerdem hatte sich ein gewisses Vermögen angesammelt. Wir zahlten hohe Mitgliedsbeiträge, und etliche Genossen, die aus reichen Elternhäusern stammten, spendeten beträchtliche Summen. So ist ja auch der KBW zu einem Hochhaus in der Frankfurter Innenstadt gekommen.«
Auch daran erinnerte ich mich düster. Mehr jedoch interessierte mich, wann sie endlich zum Clou ihrer Geschichte kommen wollte.
»Nun warte doch ab!«, vertröstete mich Jutta. »Du musst wissen, wie wir gelebt haben, damit du verstehst, was dann passiert ist.«
Also übte ich mich weiter in Geduld.
»Wir einfachen Mitglieder«, fuhr sie fort, »entwickelten eine Art Doppelmoral. Wir standen weiter um fünf Uhr morgens auf und stellten uns vor die Fabriktore, aber wir wussten genau, dass es sinnloser Aktionismus war. Ich perfektionierte die Methode, Aktivität vorzutäuschen. So schaffte ich es, wenn einer meiner Mitbewohner an meine Tür klopfte, innerhalb von drei Sekunden aus dem Bett zu springen und mit dem Kugelschreiber in der Hand am Schreibtisch zu sitzen. Das war bereits die Endphase der Partei, etwa ein Jahr vor ihrer Auflösung.« Sie schaute mich mit ihren durchdringenden grauen Augen an. »In der Zeit geschah das, was vielleicht, vielleicht auch nicht mit den heutigen Ereignissen zusammenhängt.«
Ich setzte mich aufrechter hin.
»Ein Mitglied unserer Gruppe, er hieß Rainer, war schwer krank. Er hatte seine Krankheit die ganze Zeit vor uns verheimlicht. Erst als er im Sterben lag, erfuhren wir davon. Genauso wenig wussten wir, dass er über ein beachtliches Vermögen verfügte. Er hatte zwar erzählt, dass seine Eltern begütert waren, aber nicht, dass sie ihm bereits einen Teil des Erbes, darunter ein Wohnhaus, überschrieben hatten. Rainer war ein einsamer, schüchterner Mensch, der niemanden an sich heranließ. Wen sollte er als Erben einsetzen – außer der Partei? Und so stand es in seinem Testament. Allerdings stellte sich bei der Testamentseröffnung heraus, dass auch Rainer – womit wir nie gerechnet hatten – misstrauisch geworden war. Nicht die Partei als juristische Person sollte sein Vermögen bekommen, sondern die Mitglieder der münsterschen Ortsgruppe, die er namentlich aufführte. In den weiteren Bestimmungen hieß es sogar, dass wir das Erbe nicht an die Partei weiterreichen dürften, sondern mindestens zwei Jahre lang gemeinschaftlich verwalten müssten. Als das Politbüro von der Geschichte erfuhr, schickte es sofort eine Delegation nach Münster. Die Genossen Führungskader tobten, doch es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Testamentsbestimmungen zu akzeptieren. Da wir noch alle an die gemeinsame Sache glaubten, oder es
Weitere Kostenlose Bücher