Wilsberg 08 - Das Kappenstein-Projekt
zumindest vorgaben, einigten wir uns auf einen Kompromiss: Wir kauften mit Rainers Geld eine Druckerei, in der wir die Flugblätter und Schriften der Partei zum Selbstkostenpreis druckten. Nun«, Jutta lehnte sich zurück und schloss die Augen, »ein gutes Jahr später war die Partei am Ende. Der Generalsekretär und einige seiner Vertrauten rissen sich den größten Teil des Parteivermögens unter den Nagel. Und wir waren auf einmal ein knappes Dutzend Individuen, das eine Druckerei besaß. Nachdem der erste Schock abgeklungen war und wir begriffen hatten, dass für uns ein neuer Lebensabschnitt begann, setzten wir uns zusammen und überlegten. Schnell war klar, dass die meisten von uns auf Dauer keine Druckereibesitzer bleiben wollten. Wir beschlossen, sie zu verkaufen. Doch was sollte mit dem Geld geschehen? Darüber gab es einen heftigen Streit. Die Mehrheit meinte, dass das Geld unter den Gruppenmitgliedern aufgeteilt werden sollte. Eine Minderheit vertrat die Auffassung, dass Rainer sein Geld nicht den Personen, sondern einem gesellschaftlichen Zweck überschrieben habe. Da es die Partei nicht mehr gebe, müsse es amnesty international oder einem anderen gemeinnützigen Verein gespendet werden. Wir konnten uns nicht einigen, die Fronten verhärteten sich, unsere letzten gemeinsamen Treffen arteten in wüste Beschimpfungen aus. Als die zwei im Testament festgeschriebenen Jahre um waren, verkaufte die Mehrheitsfraktion die Druckerei und teilte das Geld unter sich auf. Die Minderheitsfraktion ging leer aus. Ich gebe zu, das war ungerecht und gemein. Aber, verstehst du, nach all den Jahren der Selbstlosigkeit, in der die Partei alles und der Einzelne nichts war, schlug das Pendel in die umgekehrte Richtung aus. Wir hatten Angst vor der Zukunft und davor, auf eigenen Beinen zu stehen. Da glaubten wir, uns für die verlorene Zeit, die wir einem mittlerweile nebulös gewordenen Ziel geopfert hatten, entschädigen zu dürfen.«
»Mit anderen Worten: Du gehörtest zur Mehrheitsfraktion«, kombinierte ich.
»Richtig.« Sie betrachtete ihr Weinglas. »Und außer mir noch Berthold Dietzelbach, Martin Hennekamp und Dirk Holthausen.«
Ich schluckte. »Aber …«
Ihre Unterlippe zitterte. »Jetzt willst du wissen, warum ich mit der Geschichte nicht zur Polizei gehe. Ganz einfach: Der Wortführer der Minderheitsfraktion hieß Heiner Kleine-Langen.« Sie drehte den Kopf zu mir. In ihren Augen schimmerte es feucht. »Begreifst du, in welchem Dilemma ich mich befinde? Ich habe nicht den klitzekleinsten Beweis, dass Heiner hinter den Morden steckt. Man wird sagen, dass ich einen Parteifreund denunziere, zumal einen innerparteilichen Widersacher. Falls sich herausstellt, dass Heiner unschuldig ist, bin ich bei den Grünen erledigt. Außerdem werden die Medien die alte Geschichte genüsslich auswalzen. Dann kann ich auch noch meinen Hut als Kämmerin nehmen. Das ist so verdammt beschissen.« Sie schluckte. »Entweder der Mörder bringt mich um, oder meine Existenz ist vernichtet.«
Ich nahm sie in den Arm und drückte sie an mich. »Du darfst nicht verzweifeln. Wir werden einen Ausweg finden.« Tatsächlich sah ich nicht die Spur eines Ausweges.
»Wie denn?«, jammerte sie. »Ich hatte das alles längst vergessen. Es liegt ja fast zwanzig Jahre zurück. Als Berthold ermordet wurde, habe ich keinen Gedanken daran verschwendet. Als dann jedoch Martin das nächste Opfer war, bekam ich plötzlich einen Schreck. Aber noch immer hoffte ich, dass es sich um einen Zufall handeln würde. Allerdings jetzt, nachdem auch noch Dirk …«
»Hast du mit anderen aus deiner damaligen Gruppe darüber gesprochen?«
»Nur mit Conny.«
»Mit Conny?« Mein Puls schlug schneller.
»Ja. Sie gehörte ebenfalls zur Mehrheitsfraktion.«
»Wer noch?«, fragte ich heiser.
»Die anderen wirst du nicht kennen. Jens Heinrich ist nach Australien ausgewandert, und Ulf Meier hat ein neues Studium angefangen, Grafik und Design. Er wollte mit dem Geld eine Werbeagentur gründen. Von beiden habe ich seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört.«
»Was hat Conny gesagt?«
»Wir haben vereinbart, Stillschweigen zu bewahren.«
»Na toll«, motzte ich.
Jutta rückte ein Stück von mir weg. »Was erwartest du? Dass wir uns outen? Wem soll das nützen?«
»Und wem soll es nützen, wenn ihr ermordet werdet? Nicht nur du, auch Conny ist in Gefahr. Willst du darauf hoffen, dass der Mörder ein Macho ist, der sich nicht an Frauen vergreift?«
Unmut stieg in mir
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