Wilsberg 08 - Das Kappenstein-Projekt
versteckte Prunkbau wie Stein gewordene Diskretion vor. Hier musste kein Richter oder Chefarzt fürchten, einem Kollegen oder einer Nachbarin über den Weg zu laufen, es sei denn, die Betreffenden vertrauten ebenfalls den klugen Ratschlägen von Katja Imhoff.
Ich stellte den Wagen auf dem gekiesten Rondell ab, stieg zwischen zwei Säulen hindurch zum Eingang hinauf und drückte auf die handtellergroße Klingel.
Im Eingangsbereich dominierten Marmor und beigefarbene Teppiche. Nach etwa fünfzig Metern Fußmarsch stand ich vor dem Schreibtisch der Praxisassistentin, einem Schreibtisch, der jedem Oberkreisdirektor zur Ehre gereicht hätte.
Die Herrscherin über den Terminplan teilte mir mit, dass Frau Imhoff-Kaltenbrunn im Moment beschäftigt sei. Wenn ich partout keinen Termin in der übernächsten Woche haben wolle, könne ich ja so lange im Wartezimmer Platz nehmen, bis sich die Gelegenheit fände, Frau Imhoff-Kaltenbrunn auf meine Bitte anzusprechen, und sie eventuell ein paar Minuten Zeit für mich hätte.
Ich setzte mich also ins Wartezimmer, keinem Ensemble von Korbgeflechten oder chromfüßigen Allzweckstühlen, sondern von gediegenen, burgunderfarbenen Ledersesseln, und blätterte in einer Zeitschrift über seelische Gesundheit. Endlich war wissenschaftlich erwiesen, was der Religionslehrer uns schon in der 6. Klasse des Gymnasiums empfohlen hatte: abwechselnd heiß und kalt duschen fördert das seelische Gleichgewicht. Nur wusste er seinerzeit vermutlich nicht, welche Endorphine dabei ausgeschüttet wurden.
Ungefähr zwanzig Minuten verbrachte ich allein mit Schweigen und Lesen, dann gesellte sich eine mittelalterliche, etwas verstört wirkende Frau zu mir. Sie zog ihren Mantel nicht aus und kramte unentwegt in einer Handtasche, die sie fest an den Bauch drückte. Nachdem sie offensichtlich nicht gefunden hatte, was sie suchte, schaute sie mich bittend an: »Können Sie mir vielleicht einen Kugelschreiber leihen?«
Ich gab ihr meinen Kugelschreiber.
Sie ließ ihn sofort in der Tasche verschwinden und kramte weiter.
Gespannt beobachtete ich, wie sich die Sache weiterentwickeln würde. Als sich nichts entwickelte, fragte ich: »Dürfte ich jetzt meinen Kugelschreiber zurückhaben?«
Sie blinzelte mich an: »Welchen Kugelschreiber?«
Eine kleine Auseinandersetzung im Wartezimmer war vermutlich nicht die beste Empfehlung für einen eingeschobenen Termin bei Frau Imhoff-Kaltenbrunn, deshalb verzichtete ich zähneknirschend auf das Werbegeschenk einer Detektivausrüsterfirma.
»Sie haben nicht zufällig ein Fünfmarkstück?«, wandte sich die Frau an mich.
Ich schaute im Portemonnaie nach. »Nur zwei Markstücke.«
»Das würde mir schon weiterhelfen.«
Ich ging zu ihr hinüber, die Markstücke in der offenen Hand. In dem Moment, wo sie zugreifen wollte, schloss ich die Faust. »Ich biete Ihnen eine Mark für meinen Kugelschreiber.«
Wir wurden uns handelseinig. Bevor ihr weitere Wünsche einfielen, flüchtete ich zu der Praxisassistentin.
»Haben Sie noch ein wenig Geduld!«, legte diese schonungslos meine größte Schwäche offen.
Irgendwo im Haus wurde eine Tür geöffnet, und wir hörten eine Männerstimme.
»Jetzt«, entschied die Praxisassistentin. Sie griff zum Telefon und übermittelte mein Anliegen. Die Antwort kam postwendend: »Frau Imhoff-Kaltenbrunn sagt, Sie sollen sich einen Termin geben lassen.«
»Sagen Sie ihr, es handele sich um die KPD/ML/O.«
»Die was?«
Ich buchstabierte langsamer.
Das Arbeitszimmer der Therapeutin war anheimelnd eingerichtet. Auf dem Boden lag ein großer Perserteppich, an den Wänden standen prall gefüllte, dunkelbraune Bücherregale, außer einer Schreibtischecke gab es zwei abgeschabte Ledersessel und ein Liegesofa. Auf dem Tisch lag eine Packung Kleenex. Sensiblere Gemüter als ich hätten wahrscheinlich den Hauch von Tausenden von Schicksalen gespürt, die hier retrospektiv durchlitten worden waren.
»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Katja Imhoff. »In einer Viertelstunde kommt mein nächster Patient. Normalerweise brauche ich die Pause zur Nach- und Vorbereitung.«
Vom Hals an abwärts sah sie in ihrem Nadelstreifenkostüm, das wie eine Uniform wirkte, streng und konservativ aus. Betrachtete man nur den Kopf, schien man einem anderen Menschen gegenüberzustehen. Das ungebändigte schwarze Haar verdeckte die rechte Hälfte eines Gesichtes, das Jugendlichkeit und Lebensfreude ausstrahlte, ein Eindruck, der von den breiten, leicht geöffneten
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