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Wimsey 07 - Fünf falsche Fährten

Wimsey 07 - Fünf falsche Fährten

Titel: Wimsey 07 - Fünf falsche Fährten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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habe ihr eine neue Überraschung geblüht, als Mrs. Alcock ihr verboten habe, einen bestimmten Flur in der obersten Etage zu betreten. Dieser Flur führt zu einigen unbenutzten Räumen, und es würde ihr unter normalen Umständen nie eingefallen sein, ihn zu betreten. Da sie indessen dem weiblichen Geschlecht angehört, erweckte das Verbot augenblicklich eine unbezähmbare Neugier in ihr, und so begab sie sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, als sie das übrige Personal im unteren Geschoß beschäftigt glauben durfte, in den verbotenen Flur und lauschte. Sie hörte zwar nichts, doch zu ihrem Schrecken bemerkte sie einen schwachen Geruch nach Desinfektionsmitteln – einen Geruch, den sie in ihrer Phantasie sogleich mit der Vorstellung von Tod verband. Das erinnert mich daran, Mylord, daß man sich um die Verletzungen Eurer Lordschaft –»
    «Lassen Sie meine Verletzungen. Erzählen Sie weiter.»
    «Das erschrockene junge Mädchen bekam einen noch größeren Schrecken, als plötzlich Schritte die Treppe heraufkamen. Um nicht bei einem Akt des Ungehorsams ertappt zu werden, versteckte sie sich rasch in einer kleinen Besenkammer am oberen Treppenende. Dort konnte sie durch einen Spalt hinausspähen und beobachten, wie Alcock mit einer Schüssel heißen Wassers und einem Rasierapparat den Flur entlangging und ein Zimmer an dessen Ende betrat. Überzeugt, daß eine Leiche im Haus sei und Alcock sie waschen und rasieren und so fürs Begräbnis vorbereiten wollte, rannte sie nach unten und ließ im Anrichteraum ihrer Hysterie freien Lauf. Zum Glück war Mrs. Alcock nicht in der Nähe, und nach einiger Zeit hatte sie dann ihre Gefühle wieder unter Kontrolle und konnte in gewohnter Manier ihren Pflichten nachgehen.
    Gleich nach dem Lunch wurde sie mit irgendeinem Auftrag fortgeschickt, aber sie hatte zuviel Angst, um ihren Verdacht jemandem mitzuteilen. Nach ihrer Rückkehr wurde sie von den verschiedensten Aufgaben in Anspruch genommen und war auch nie außer Sichtweite des einen oder anderen ihrer Domestikenkollegen, bis sie zu Bett ging. Die Nacht verbrachte sie in einem Zustand nervöser Ängstlichkeit, in dem sie vergeblich den Mut zusammenzuraffen versuchte, diesen geheimnisvollen Korridor noch einmal zu erforschen.
    Bis zum frühen Morgen hatte sie sich dann zu der Entscheidung durchgerungen, daß die gräßlichste Gewißheit immer noch den quälenden Vermutungen vorzuziehen sei. Sie stand auf, schlich vorsichtig am Schlafzimmer der Alcocks vorbei und ging wieder in die obere Etage. Sie hatte sich schon ein Stückchen den Korridor entlanggewagt, als ein hohles Stöhnen sie auf der Stelle erstarren ließ.»
    «Wirklich, Bunter», sagte Wimsey, «ihr Erzählstil würde dem Schloß von Otranto alle Ehre machen.»
    «Vielen Dank, Mylord. Ich kenne das erwähnte Werk zwar nur vom Hörensagen, aber es scheint sich zu seiner Zeit großer Beliebtheit erfreut zu haben. Jedenfalls, das Mädchen Elizabeth war sich noch nicht schlüssig, ob sie schreien oder fortlaufen solle, als sie plötzlich mit den Fuß auf eine lose Diele trat, die laut knarrte. Da sie fürchtete, das Geräusch könnte die Alcocks geweckt haben, wollte sie sich gerade wieder in die Besenkammer flüchten, als die Tür am anderen Ende des Korridors vorsichtig geöffnet wurde und ein schreckliches Gesicht sie daraus anstarrte.»
    Bunter legte eine Kunstpause ein, um die Wirkung seiner Erzählkunst zu genießen.
    «Ein schreckliches Gesicht», sagte Wimsey. «Schön, schön, ich hab verstanden. Ein schreckliches Gesicht. Weiter, bitte.»
    «Das Gesicht war, wenn ich recht verstanden habe», fuhr Bunter fort, «in Grabtücher gehüllt. Das Kinn war hochgebunden, die Züge waren häßlich und die Lippen von den vorstehenden Zähnen zurückgezogen, und die Erscheinung war von einer gespenstischen Blässe.»
    «Hören Sie mal, Bunter», sagte Wimsey, «könnten Sie nicht ein paar von den phantasievollen Adjektiven weglassen und einfach sagen, was es für ein Gesicht war?»
    «Ich hatte selbst keine Gelegenheit, das Gesicht zu sehen», wies Bunter ihn zurecht, «aber der Eindruck, den die Beobachtungen des jungen Mädchens in mir hervorriefen, war der eines dunkelhaarigen, glattrasierten Mannes mit vorstehenden Zähnen, der unter den Folgen irgendwelcher körperlicher Einwirkungen litt.»
    «Oh, ein Mann war’s also?»
    «Das war Elizabeths Meinung. Unter den Verbänden war eine Haarlocke zu sehen. Die Augen schienen geschlossen oder zum Teil

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