Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
reicher Mann war, fügten die Gäste sich diesem unabänderlichen Programm, und wenn sie sich dabei langweilten, ließen sie es sich nicht anmerken.
Zu Sir Septimus’ liebenswerten traditionellen Gewohnheiten gehörte es auch, seiner Tochter Margharita zu jedem Geburtstag – der zufällig auf den Heiligabend fiel – eine Perle zu schenken. Es waren jetzt zwanzig an der Zahl, und die Sammlung erfreute sich inzwischen einer gewissen Berühmtheit und war schon in den Zeitungen der höheren Gesellschaft abgebildet worden. Obschon die Perlen nicht sensationell groß waren – jede hatte ungefähr die Größe einer Markerbse –, stellten sie einen sehr hohen Wert dar. Sie waren von exquisiter Färbung und vollkommener Form und paßten haargenau zueinander. An diesem Heiligabend hatte nun die Überreichung der einundzwanzigsten Perle den Anlaß zu einer ganz besonderen Festlichkeit mit Tanz und Ansprachen geboten, während die eigentliche Weihnachtsfeier im engeren Familienkreis mit Truthahnessen und den erwähnten viktorianischen Lustbarkeiten am darauffolgenden Weihnachtsabend stattfand. Außer Sir Septimus und Lady Shale sowie beider Tochter waren elf Gäste anwesend, fast alle auf irgendeine Weise mit ihnen verwandt oder sonstwie verbunden: John Shale, ein Bruder, mit Frau, Sohn Henry und Tochter Betty; Bettys Verlobter, Oswald Truegood, ein junger Mann mit politischen Ambitionen; George Comphrey, ein Vetter Lady Shales, etwa dreißigjährig und als Lebemann bekannt; Lavinia Prescott, die Georges wegen eingeladen worden war; Joyce Trivett, Henry Shales wegen eingeladen; Richard und Beryl Dennison, entfernte Verwandte von Lady Shale, die in der Stadt ein ebenso flottes wie kostspieliges Leben führten, ohne daß jemand wußte, wovon sie das bezahlten; und schließlich Lord Peter Wimsey, in einem rührenden Anflug unbegründeter Hoffnungen Margharitas wegen eingeladen. Außerdem waren natürlich noch William Norgate, Sir Septimus’ Sekretär, und Miss Tomkins, Lady Shales Sekretärin anwesend, weil sie einfach da sein mußten, denn ohne ihre stille Tüchtigkeit wäre aus den ganzen Weihnachtsvorbereitungen nichts geworden.
Das Abendessen war vorüber – eine scheinbar endlose Folge von Suppe, Fisch, Truthahn, Braten, Plumpudding, Pasteten, kandierten Früchten, Nüssen und fünf Sorten Wein, präsidiert von Sir Septimus Shale mit strahlendem Lächeln, Lady Shale mit spöttischer Verachtung, sowie Margharita, hübsch und gelangweilt, mit einer Kette aus einundzwanzig sanft schimmernden Perlen um den schlanken Hals. Dann waren die Gäste, gesättigt und mit einem Völlegefühl, das nur noch nach horizontaler Lage verlangte, zum Spielen in den Salon geführt worden – »Musikalische Stühle« (am Klavier Miss Tomkins), »Hasch den Pantoffel« (Pantoffel gestellt von Miss Tomkins) und »Scharade« (Kostüme von Miss Tomkins und Mr. William Norgate). Der Hintere Salon (Sir Septimus hielt an diesem altmodischen Namen fest) gab einen ausgezeichneten Umkleideraum ab, da er durch eine Schiebetür vom Großen Salon abgetrennt war, wo das Publikum im grellen Licht elektrischer Lampen, das von der Messingdecke reflektiert wurde, auf Leichtmetallstühlen saß und verlegen mit den Füßen auf dem schwarzgläsernen Fußboden scharrte.
Schließlich gab William Norgate, nachdem er sich der allgemeinen Stimmung vergewissert hatte, Lady Shale den Rat, doch lieber etwas weniger Anstrengendes spielen zu lassen. Lady Shale pflichtete ihm bei und schlug wie üblich Bridge vor. Sir Septimus wischte wie üblich diesen Vorschlag beiseite.
»Bridge? Unsinn, Unsinn! Ihr könnt alle Tage eures Lebens Bridge spielen. Heute ist Weihnachten! Etwas, was wir alle gemeinsam spielen können. Wie wär’s denn mit ›Tier, Pflanze, Mineral‹?«
Dieser intellektuelle Zeitvertreib war eines von Sir Septimus’ Lieblingsspielen, denn er verstand sich recht gut auf Fangfragen. Als allen dann nach kurzer Diskussion klar wurde, daß dieses Ratespiel anscheinend unveränderlicher Bestandteil des Weihnachtsprogramms war, fügte man sich, und Sir Septimus erbot sich, als erster »hinauszugehen« und den Anfang zu machen.
Nach einer Weile hatten sie unter anderem erraten: ein Foto von Miss Tomkins’ Mutter; eine Grammophonplatte von »Ich möchte glücklich sein« (allerdings erst nach ausgiebiger wissenschaftlicher Debatte über die genaue chemische Zusammensetzung von Grammophonplatten, von Mr. Norgate schließlich durch einen Blick in die
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