Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Handwerker ist ein wohlbekannter Bürger von Coventry, der etwas mit dem Kirchengemeinderat von St. Michael zu tun hat, und der picklige Jüngling ist Büroangestellter der Firma Morrison. Gegen keinen dieser Leute liegt irgend etwas vor. Und alle sind bis London durchgefahren, richtig? In Rugby ist keiner ausgestiegen?«
»Keiner«, bestätigte Monty.
»Schade«, sagte der Chefinspektor. »Es ist nämlich so, Mr. Egg, daß wir nicht von einem einzigen Menschen in diesem Zug hören, der sich nicht von selbst gemeldet und ausgesagt hat, und die Zahl der Leute, die sich gemeldet haben, stimmt genau mit der Zahl der Fahrkarten überein, die in Euston an der Sperre eingesammelt wurden. Ihnen ist wohl auch niemand aufgefallen, der sich ständig auf dem Gang herumtrieb?«
»Nicht ständig«, sagte Monty. »Ich erinnere mich nur, daß der mit dem Bart hin und wieder ein bißchen herumgelaufen ist – er kam mir irgendwie rastlos vor. Ich dachte, er fühle sich vielleicht nicht wohl. Aber er war immer nur ein paar Minuten fort. Schien sehr nervös zu sein – und ein unangenehmer Geselle, knabberte an den Fingernägeln und brummelte immer etwas auf deutsch, aber –«
»Knabberte an den Fingernägeln?«
»Ja. Sehr unschön, muß ich sagen. ›Gepflegte Hände, die das Auge erfreu’n, bringen manche Bestellung ein, doch gebissene Nägel und schwarzer Rand, bedeuten einen schweren Stand.‹ So steht’s im Handbuch des Reisenden .« Und Monty betrachtete wohlgefällig seine eigenen gepflegten Fingerspitzen. »Die Hände dieses Menschen – zeugten ganz entschieden nicht von einem Gentleman. Abgebissen bis aufs Fleisch.«
»Das ist aber wirklich komisch!« rief Peacock. »Dr. Schleicher hat besonders gepflegte Hände. Ich habe ihn gestern selber vernommen. Er kann sich doch das Nägelknabbern nicht so plötzlich abgewöhnt haben, oder? Das tun die Leute für gewöhnlich nicht – so unvermittelt jedenfalls nicht. Und warum sollte er auch? Ist Ihnen an Ihrem Gegenüber sonst noch etwas aufgefallen?«
»Ich glaube nicht. Doch! Einen Moment. Er rauchte Zigarren in unvorstellbarem Tempo. Ich erinnere mich, daß er einmal mit einer fast aufgerauchten Zigarre auf den Gang hinausging und fünf Minuten später mit einer neuen, auch schon halb aufgerauchten, wiederkam. Ausgewachsene Coronas – gute dazu, und ich verstehe etwas von Zigarren.«
Peacock sah ihn mit aufgerissenen Augen an, dann ließ er die Hand auf den Tisch fallen.
»Ich hab’s!« sagte er. »Jetzt weiß ich wieder, wo ich in letzter Zeit ein paar ganz schlimm abgeknabberte Fingernägel gesehen habe. Himmel! Ja, aber wie konnte er …«
Monty wartete gespannt, was kommen würde.
»Simon Grants Sekretär. Er war angeblich den ganzen Tag und Abend in London, weil er die Grippe hatte – aber woher soll ich wissen, ob das stimmt? Andererseits, wozu hätte es gut sein sollen, wenn er verkleidet in diesem Zug saß? Und was könnte Dr. Schleicher damit zu tun gehabt haben? Wir suchen Simon Grant – und Schleicher ist nicht Grant – zumindest –« der Chefinspektor unterbrach sich und fuhr nachdenklicher fort: »Zumindest wüßte ich nicht, wie er es sein könnte. Man kennt ihn in dieser Gegend recht gut, obschon es heißt, daß er sehr viel von zu Hause fort sei, und er hat eine Frau –«
»So?« fragte Mr. Egg mit bedeutungsvollem Nachdruck.
»Sie meinen, er führt ein Doppelleben?« fragte der Chefinspektor zurück.
» Und eine Doppelehe«, sagte Mr. Egg. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen eine indiskrete Frage stelle – aber sind Sie sicher, daß Sie einen falschen Bart sofort erkennen würden, wenn Sie ihn gar nicht erwarten?«
»Bei gutem Licht wahrscheinlich, doch im Schein von Dr. Schleichers Leselampe … Aber worauf läuft das hinaus, Mr. Egg? Wenn Schleicher Grant ist, wer ist dann der Mann, den Sie im Zug gesehen haben – der mit den abgeknabberten Fingernägeln? Grant knabbert nicht an den Fingernägeln, das weiß ich – er nimmt es mit seinem Äußeren sehr genau, wie ich gehört habe, wenngleich ich ihn selber nie gesehen habe.«
»Nun, wenn Sie mich schon fragen«, sagte Mr. Egg, »warum soll der andere Mann im Zug nicht alle drei gewesen sein?«
»Was für drei?«
»Grant, Schleicher und der Sekretär.«
»Ich komme nicht ganz mit.«
»Also, ich meine – nehmen wir an, Grant ist Schleicher und hat sich als solcher – sagen wir im Laufe der letzten drei Jahre, in denen er auf den Namen Schleicher auch Geld beiseite geschafft hat –
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