Wind der Gezeiten - Roman
die übrige Gemeinschaft hatte Zena sich eingefügt, nur den Männern ging sie lieber aus dem Weg. Sie hielt sich zumeist in Elizabeths Nähe auf, wie ein kleiner brauner Schatten, das runde Gesicht mit den dunklen Augen halb verborgen von dem tiefschwarzen Haar. Um nicht zu viele Blicke auf sich zu ziehen, hatte sie auf Anraten von Miss Jane ein Hemd aus Kattun angelegt, das ihr in groben Zipfeln bis über die Knie hing. Nachts schlief sie auf einer Binsenmatte neben Faiths Wiege, um gleich zur Stelle sein zu können, wenn die Kleine aufwachte. An dem Baby hing sie mit großer Zärtlichkeit, und wenn sie es in den Armen hielt, strahlte sie vor Glück.
Sprach man sie an, lächelte sie meist nur unergründlich und gab keine Antwort. Nur selten machte sie von ihren spärlichen Sprachkenntnissen Gebrauch. Es schien ihr lieber zu sein, nicht viel reden zu müssen. Hin und wieder ließ sie sich herab, Edmond beim Erstellen seines Glossars zu helfen, dann fragte er sie, was dieses oder jenes in ihrer Sprache bedeutete, und sie nannte ihm das passende Wort, das er sogleich notierte. Zu seinem Erschrecken fand er dabei mit der Zeit heraus, dass es unter den karibischen Stämmen unterschiedliche Dialekte gab, ja sogar völlig voneinander abweichende Sprachen, von denen eine überwiegend von den Frauen, die andere von den Männern gesprochen wurde.
Elizabeth betrachtete die junge Eingeborene, die sich mit Faith unter die Palme gehockt hatte und das Kind stillte. Das Kattunhemd hatte sie über das Köpfchen gezogen, sodass kein Sonnenstrahl die empfindliche helle Haut treffen konnte. Sie wusste, dass die Kleine während der heißen Stunden des Tages im Schatten bleiben musste, Elizabeth hatte es ihr geduldig erklärt. Auch mit Johnny war sie in seinem ersten Lebensjahr sehr vorsichtig gewesen und hatte ihn selten der Sonne ausgesetzt. Erst als er laufen konnte und einen dichten, schützenden Lockenschopf hatte, war sie mit ihm an den Strand gegangen und hatte ihn dort mit ihrem liebsten Element vertraut gemacht. Gemeinsam hatten sie in den Wellen getollt und gespielt, fast ganz von allein hatte er das Schwimmen und Tauchen gelernt und war mittlerweile kaum noch vom Wasser wegzubringen. Wie bei Elizabeth hatte seine Haut inzwischen die satte Farbe geölter Haselnüsse angenommen, sodass er fast so dunkel war wie die jahrelang von Sonne, Wind und Wetter braun gebrannten Seeleute. Auch Faith würde rasch braun werden; ihre Haut begann bereits jetzt, immer mehr Farbe anzunehmen. Elizabeth war dankbar dafür, denn es gab unter den Weißen auch viele, die nicht so widerstandsfähig waren, vor allem die oftmals rot- oder flachshaarigen Engländer und Iren. Deirdre ging selten ohne Hut und langärmelige Kleidung in die Sonne, anderenfalls musste sie es mit schmerzhaften Rötungen der Haut büßen. Der niemals endende Sommer in der Karibik hatte sie nicht dagegen abgehärtet. Während der heißen Mittags- und Nachmittagsstunden hielt sie sich lieber im Haus auf.
Von der Hängematte aus konnte Elizabeth Deirdre auf der Veranda sehen, den Kopf über eine Stopfarbeit gebeugt. Johnny zerriss beim Spielen ständig seine Sachen, aber auch die Männer brachten gelegentlich zerlöcherte Hemden oder Beinkleider mit lockeren Nähten vorbei. In Miss Janes Haushalt gab es immer etwas zu flicken. Die Frauen teilten sich diese Arbeit, doch Deirdre hatte den Löwenanteil übernommen, weil sie am geschicktesten mit der Nadel umgehen konnte.
Miss Jane kam mit einem vollen Wäschekorb aus dem Küchenhaus und sagte etwas zu Deirdre, worauf diese den Kopf hob und sie anlächelte. Die rundliche Witwe ging weiter zum Bach, der unweit des Hauses durch das Dorf floss. Dort trafen sich häufig die wenigen Frauen der Siedlung, um Wäsche zu waschen und ein Schwätzchen zu halten, so wie auch an diesem Nachmittag. Elizabeth hörte ihr Kichern und einzelne Wortfetzen. Die Frau des Krämers hielt sich die rechte Wange. Vermutlich berichtete sie von der Tortur, die ihr Mann ihr zugefügt hatte, als er ihr vor zwei Tagen den faulen Zahn entfernt hatte. Die Frau des Schotten, der am Rand der Siedlung eine kleine Tabakpflanzung angelegt hatte, zeigte mit einer ausladenden Geste den Leibesumfang ihrer Magd an, die in wenigen Wochen niederkommen sollte, mit dem Kind eines holländischen Holzhändlers, der tragischerweise beim letzten großen Sturm ertrunken war. In der Nähe kreischten Wasservögel, die sich um einen Fisch zankten. Aus dem Dschungel, der sich an der
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