Wind der Traumzeit (German Edition)
interessierten, die ahnten, dass es wichtigere Weisheiten als den technischen Fortschritt und die Erschließung von Bodenschätzen geben musste.
Plötzlich hielt Nora in ihren Gedanken inne. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die betrunkenen Aborigines, die in der Nähe des Supermarkts in einer staubigen Seitenstraße gelegen hatten. Der Wind hatte ihren Körpergeruch und die Alkoholfahne zu ihr herübergeweht. Doch auch sie war – wie alle anderen Passanten – rasch weitergegangen. Sie dachte daran, dass sie einmal in einem Buch einen Satz gelesen hatte, der ihr im Gedächtnis geblieben war. Der Autor des Buchs hatte die Aborigines in einem nur etwa dreiseitigen Kapitel seines Reiseberichts überAustralien abgehandelt und geschrieben, dass die Ureinwohner sicher seit Tausenden von Jahren auf dem Kontinent leben würden. Gleichzeitig warf er die Frage auf, ob ihnen diese Tatsache das Recht gebe, auch für alle Zeiten die Einzigen zu bleiben.
Nora hatte schon damals beim Lesen fast erschrocken innegehalten. Durfte man es sich so einfach machen? Ist das Verdrängen und Auslöschen einer über vierzigtausend Jahre alten Kultur wirklich nur eine Frage der Evolution? Nur die Stärksten setzen sich durch? Die, die die Waffen mitbringen, vertreiben die anderen und verkaufen diese Vertreibung oder Vernichtung dann auch noch mehr oder weniger achselzuckend als Plan der Schöpfung oder der Evolution? Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was Recht und Unrecht ist?
Wieder einmal versetzte Nora das Nachdenken über dieses Thema in Unruhe, wieder einmal schwankte sie zwischen Ratlosigkeit und Empörung. Und doch musste sie sich eingestehen, dass sie sich lieber mit den vergangenen Zeiten der Aborigines-Kultur und mit ihrer Traumzeit auseinander setzte als mit den Problemen der Gegenwart zwischen Schwarz und Weiß. Es war eindeutig einfacher, sich entweder mit der weißen Welt zu beschäftigen oder mit der Welt der Ureinwohner. Irgendwie schienen sie auch heute noch nicht zueinander zu gehören.
Wie betreten war sie gewesen, als sie erfahren hatte, dass man kurz vor Beginn der Olympischen Spiele in Sydney ganze Busladungen voller obdachloser oder betrunkener Aborigines aus der Stadt gebracht hatte, damit das Bild der prächtigen, weltoffenen Olympiastadt nicht getrübt würde. Auch sie war unangenehm berührt beim Anblick von betrunkenen, randalierenden oder bettelnden Aborigines, die Flaschen und Dosen umherwarfen und liegen ließen. Aber diese Ureinwohner hatten offensichtlichjeden Bezug zu ihren Traditionen, zu ihren Wurzeln verloren. Sie waren nicht mehr eins mit ihrem Land und dem Boden, über den sie gingen. Aber Nora wusste auch, dass man dies alles in den geschichtlichen Zusammenhängen sehen sollte. Die Väter und Vorväter dieser Aborigines waren von ihrem Land vertrieben worden. Man hatte sie mit Gewalt davon abgehalten, es nach ihren Traumzeit-Gesetzen zu hüten und vor Veränderungen zu schützen. Was mussten sie empfunden haben beim Entstehen von Häusern und Stallgebäuden auf dem Land, durch das einst ihre Schöpferahnen gewandert waren? Wie mochten sich die alten Aborigines gefühlt haben, die vielleicht noch mit ansehen mussten, wie große Maschinen, Kräne oder Bohrtürme aufgestellt wurden, um Bodenschätze aus Tya, der Erde, zu graben?
Nora fragte sich unwillkürlich, was Geistliche und Gelehrte dieser Zeit von sich geben würden, wenn jemand anfinge den Petersdom, Notre Dame, den Buckingham-Palast oder die Pyramiden abzutragen, um an irgendetwas unglaublich Wichtiges im Boden zu gelangen.
Und doch war sie zu sehr ein Kind ihrer Zeit, um kein Verständnis für die moderne Welt aufzubringen. Sie liebte es, in einem gut ausgestatteten Haus zu leben. Sie mochte nicht auf Kühlschrank, Waschmaschine oder Geschirrspüler verzichten. Sie schätzte ihren Computer und die Errungenschaften des Internets, die es so einfach machten, mit Menschen aus fernen Ländern blitzschnell in Kontakt zu treten. Es war für sie selbstverständlich, zu faxen oder zu kopieren. Während sie darüber nachdachte, senkte sie den Kopf. Dabei fiel ihr Blick auf ihren Ringfinger. Auch der Diamant, den sie trug, war irgendwo aus einer Mine ans Tageslicht befördert worden. Unmengen anErde hatten dafür bewegt, gesiebt oder gefiltert werden müssen. Und doch würde sie diesen Ring nie wieder hergeben wollen, denn mit ihm hatte Tom seine Liebe zu ihr besiegelt. Auf seine Weise symbolisierte der Ring wiederum etwas Wichtiges und
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