Wind der Traumzeit (German Edition)
Tagen war Catherine mit den Kindern vertraut und Nora eine große Hilfe. Es war eine Wohltat für Nora, sich ab und zu aus dem alltäglichen Leben ausklinken zu können, um einmal nur das zu tun, was sie sich schon lange vorgenommen hatte. Sie ordnete ihre Unterlagen und Notizen über die Traumzeit-Erzählungen und begann sich intensiv damit zu beschäftigen. Gleichzeitig notierte sie letzte Fragen zu Dingen, die ihr noch unklar waren.
Auch Tom schien sich sehr über den Besuch seiner Mutter zu freuen. Wann immer sich die Zeit fand, war er mit ihr zusammen und unterhielt sich mit ihr. Erfreut und berührt zugleich beobachtete er seine Mutter im Umgang mit den Kindern und mit Nora. Glücklich stellte er fest, dass sich die Anspannung der letzten Monate zu legen begann.
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S ylvia Arndt gähnte herzhaft und ließ sich zufrieden vor ihrem Computer nieder. Ihr Mann war beruflich außerhalb, und endlich hatte ihre kleine Tochter in den Schlaf gefunden. Sie wunderte sich, denn sie hatte schon eine ganze Woche nichts mehr von Nora gehört. Während der PC summend hochfuhr, dachte sie an die Freundin, die nun so weit entfernt lebte. Doch trotz dieser Entfernung waren sie sich nah geblieben, und es hatte sich eine regelmäßige E-Mail-Korrespondenz entwickelt. Mindestens einmal wöchentlich tauschten sie sich aus, und Sylvia hatte sich auf diese Weise ein Bild davon machen können, wie Noras Leben in Australien war. Umgekehrt blieb Nora durch ihre Freundin eng mit Hamburg in Verbindung. Sylvia war froh über die Möglichkeiten des Internets, denn oftmals fehlte ihr Nora, und wären sie auf den normalen Postweg angewiesen, hätten sie beide deutlich längere Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.
Sie lächelte erfreut, als sie jetzt – neben der ewigen Werbung einer Drogeriekette, bei der sie einmal etwas bestellt hatte – tatsächlich eine E-Mail von Nora vorfand. Sie hatte sich Sorgen um ihre Freundin gemacht, der es in den vergangenen Monaten nicht nur wegen der Hitze, sondern auch wegen Schwangerschaftsbeschwerden nicht gut gegangen war. Sylvia wusste, dass Nora Niklas sehr vermisste und dass sie sich immer noch Vorwürfe machte, seine heile Welt zum Einsturz gebracht zu haben. Gespannt begann sie zu lesen und tauchte ein in Noras australisches Leben. Noras Beschreibungen ließen die Landschaften und die Jahreszeiten deutlich vor ihrem inneren Auge erscheinen, und sie freute sich, auf so persönliche Art und Weise über diesen fernen Kontinent informiert zu werden. Sie registrierte aber auch Noras Kummer, was Niklas betraf. Müde legte sie den Kopf in den Nacken und dachte über die beiden nach.
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N ora saß am Schreibtisch und ordnete den Stapel mit ihren Notizen. Sie zögerte. Wen sollte sie fragen? Sie hatte nicht vor, Max in irgendeiner Weise zu bedrängen oder ihm auch nur das Gefühl zu geben, er müsse ihr im Verlag »weiterhelfen«. Aber wenn sie jetzt eine vorsichtige Anfrage für ihr Manuskript gänzlich an ihm vorbei startete, wäre er dann nicht betroffen oder sogar beleidigt, dass sie ihn gar nicht über ihre Pläne informiert hatte? Nora seufzte. Immer war alles so kompliziert. Sie überlegte noch eine Weile und entschied sich dann, Max eine E-Mail zu schicken, in der sie ganz neutral von ihrem »Projekt« berichtete. Sie wolle nicht versäumen, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie beabsichtige, im Verlag anzufragen, ob so etwas Chancen habe.
Gleich nachdem sie diese Mail auf den Weg gebracht hatte, machte sie sich daran Niklas zu schreiben. Nachdenklich saß sie vor ihrem Computer und grübelte. Nach wie vor kämpfte sie verbissen darum, den Kontakt zu ihrem Sohn in Hamburg aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Regelmäßig sandte sie ihm E-Mails und Fotos, um ihn über seine Geschwister und ihr Leben in Australien auf dem Laufenden zu halten. Aber immer noch litt sie darunter, dass er ihr offenbar nicht verzeihen konnte, dass sie mit Tom fortgegangen war. Es wollte sich einfach nicht mehr dieser gänzlich unbefangene Ton der absoluten Vertrautheit zwischen ihnen einstellen.
Traurig nahm sie den Bilderrahmen mit einem Foto von Niklas in der Hand. Ihre Augen wanderten über sein Gesicht und registrierten sein gleichmütiges Grinsen. Blonde Ponyfransen standen frech in alle Richtungen. Er trug ein T-Shirt, das sie noch nie gesehen hatte. Früher war ihr jedes Einzelne seiner Wäschestücke grenzenlos vertraut gewesen. Sie schluckte. Ihre Liebe zu Tom hatte die heile Welt ihres Sohnes zerstört.
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