Wind der Traumzeit (German Edition)
Vermutlich hatte ihn diese Erfahrung viel schneller erwachsen werden lassen, als sie sich das hatte vorstellen können. Sie riss sich zusammen und schob das Kinn vor. Und wenn es hundert Jahre dauern sollte, sie würde Niklas nicht einfach abschreiben. Vielleicht käme doch noch eines Tages der Zeitpunkt, zu dem er sie ein bisschen verstehen könnte.
Unbeirrt begann sie zu schreiben – von der Hitze Australiens, von den Fortschritten, die Marie, Sophie und Steven in letzter Zeit gemacht hatten. Und sie erzählte auch immer kleine Episoden von Toms Arbeit bei den Flying Doctors und von Phil, den ihr Sohn bei seinem Besuch besonders ins Herz geschlossen hatte. Sie war sich sicher, dass dies für Niklas und seine Begeisterung für das Fliegen von Interesse war, wusste aber instinktiv, dass er – auch nach seinen Ferien hier – niemals direkt danach fragen würde. Zum Schluss scannte sie noch ein Foto von sich und den Kindern ein, das Tom vor einiger Zeit auf der Veranda aufgenommen hatte, und fügte es als Anhang bei. Zufrieden sah sie zu, wie der Computer arbeitete. Immer noch versetzten sie die Möglichkeiten der Technik in Erstaunen. Rechnete man die Zwischenstopps ein, hatte sie etwa dreißig Stunden mit dem Flugzeug gebraucht, um von Hamburg nach Cameron Downs zu gelangen, und hier drückte sie ein paar Tasten, und in unglaublicher Zeit verschwand ihr Brief mit dem Foto auf der Datenautobahn und kam bei Niklas an.
Lächelnd fuhr sie das Gerät herunter, schaltete es aus und ging nach draußen, wo Catherine Steven im Kinderwagen hin undher schob, während sie Sophie eine Geschichte erzählte. Nora beobachtete sie eine Weile. Es tat ihr gut, dass Catherine hier war. In kürzester Zeit hatte sie einen Draht zu den Kindern gefunden, und Nora konnte sich öfter entspannen. Sie musste nicht mehr rund um die Uhr alles stehen und liegen lassen, wenn ein Kind weinte. Catherine war auf unaufdringliche Weise zur Stelle und sprang ein. Bereits wenige Tage nach ihrer Ankunft hatte sie Noras Erschöpfung mitbekommen und ihr vorgeschlagen, sich ein, zwei Nächte um Steven zu kümmern, damit sie einmal durchschlafen könnte. Diese hatte zunächst gezögert, aber die Aussicht auf tiefen, erholsamen Schlaf ohne Unterbrechung war so verlockend gewesen, dass sie schließlich zugestimmt hatte. Am nächsten Morgen war sie erst aufgewacht, als ihr die Sonne schon ins Gesicht schien. Wohlig hatte sie sich ausgestreckt und die Bettwärme genossen. Diese eine ganze Nacht voll Schlaf kam ihr nach all den schlaflosen Nächten plötzlich wie ein unerhörter Luxus vor – wie Schokolade für die Seele.
Während der nächsten Tage saß sie stundenlang vollkommen fasziniert über ihre Notizen gebeugt im Arbeitszimmer und schrieb. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und in ihrem tiefsten Inneren fühlte sie, dass das, was sie zu Papier brachte, richtig war. Sie empfand dieses Gefühl mit einer solchen Intensität, dass sie fast so etwas wie Angst verspürte, den Faden zu verlieren oder unterbrochen zu werden.
Sie liebte die Geschichten von Yurlunggur, der Regenbogenschlange, von Bahlu, dem Mond, und von Yhi, der Sonne, oder von Baiame, dem großen Schöpfergeist. Sie spürte die Poesie in den Erzählungen über Yarrageh, den Frühlingswind, der die Blüten wieder hervorlockte, und über Kian, den Adler, den Boten des Himmels, dessen Brüder die Winde und dessen Schwestern die Wolken waren. Nora vertierte sich in ihre Notizen und erinnerte sich auch an Wuluwait, den Gesandten aus dem Jenseits, dessen Aufgabe es war, die Seelen der Verstorbenen ins Ahnenreich zu führen. Und sie schrieb über Gieger-Gieger, die kalte Westwindfrau, deren zornige Unwetter gefürchtet waren.
Nora war fasziniert von der Traumzeit der Aborigines, und diese Faszination, gepaart mit ihrem Gespür für dieses Thema, gaben ihr die Fähigkeit, genau die richtigen Worte zu finden, um die Erzählungen zu etwas Besonderem, zu etwas Lebendigem werden zu lassen. Oft sah sie, während sie schrieb, Wudima oder Marrindi vor sich, und sie empfand eine fast schon seltsame Verbundenheit, die sie förmlich beflügelte und weiter voranbrachte. Selbst wenn dieser Sammlung von Erzählungen kein Erfolg beschieden sein würde, wusste Nora, dass es wichtig und richtig war, was sie aufschrieb – und wenn es nur für Marrindi und seine Leute oder für sie selbst war. Instinktiv fühlte sie jedoch, dass es mehr Menschen gab, die sich wie sie so brennend für die Werte dieser alten Kultur
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