Wind Der Zeiten
sehen, der Augen im Kopf hat und sich an die schöne Lady Keriann, Gott sei ihrer Seele gnädig, erinnert.« Resolut klatschte sie in die Hände. »Mòrag, du gehst ins Dorf. Jemand muss der alten Kenna Milch und etwas von der Broth bringen und meine
Leinentücher abholen. Dann nimmst du am besten gleich unser irisches Mädchen mit zur Schneiderin, und ihr sucht einen schönen Stoff aus. Sie soll euch die guten aus ihrer Spezialtruhe zeigen, sag ihr das. Und wenn sie nicht will, dann sag nur, der Gleanngrianach selbst hat es angeordnet. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht im Handumdrehen ein paar hübsche Kleider für das arme Mädchen schneidern lassen könnten.«
Die anderen Frauen nickten zustimmend, und ich hatte den Eindruck, sie betrachteten die ganze Sache als einen riesengroßen Spaß.
5
Freundschaft
G emeinsam machten wir uns auf den Weg ins Dorf hinab. Jede mit einem Krug unter dem Arm, den Dolina mit einem Leinentuch sorgfältig abgedeckt hatte. Ich fand es gar nicht so einfach, die Suppe zu transportieren, ohne die Hälfte davon schon unterwegs zu verschütten. Mòrag schien damit weniger Probleme zu haben, aber für sie war es ja auch nicht das erste Mal, dass sie einen schweren Topf, der bis zum Rand mit Suppe gefüllt war, durch die Landschaft trug. Nach einer Weile hatte ich den Dreh raus, die Suppe schwappte nicht mehr über – womöglich hatte ich auch ein wenig unterwegs verloren –, und ich konnte mich endlich umsehen. Im Unterholz entdeckte ich Eichhörnchen, die aber flink die Kiefern hinaufflohen, als sie unsere Schritte auf dem weichen Waldboden hörten, und ich hätte schwören können, dass eines davon mindestens siebzig Zentimeter lang war.
Als ich Mòrag danach fragte, sagte sie: »Hatte das Viech eine gelbliche Kehle? Dann war es sicher ein Taghan .«
Dieses Wort sagte mir gar nichts, ich hatte es noch nie gehört und sagte es ihr.
Lachend versuchte sie mir zu erklären, welches Tier ich da gesehen hatte. Erst als sie erzählte, ein Taghan mache Jagd auf Eichhörnchen und kleinere Vögel, dämmerte mir langsam, dass sie womöglich von einem Marder sprach. Kein Wunder,
dass sie mich auslachte, weil ich ihn für ein Rieseneichhörnchen gehalten hatte.
Auch heute waren die Temperaturen angenehm und entsprachen so gar nicht dem, was man gemeinhin im Frühjahr in dieser Gegend erwartete. Nur eine leichte Brise ließ die Blätter der dichten Farne gelegentlich zittern. Es duftete nach Tannennadeln und sonnenwarmem Waldboden, Vögel zwitscherten, und diese friedliche Atmosphäre frei jeglicher Geräusche, an die wir uns in der modernen Zivilisation schon längst gewöhnt hatten und die selbst hier in den Highlands manchmal meine Ruhe gestört hatten, lösten eine eigenartige Leichtigkeit in mir aus. Am liebsten hätte ich mich unter eine der hohen Kiefern gelegt, zwischen deren langen Nadeln das Sonnenlicht wie Feenstaub tanzte. Vielleicht war es aber auch einfach nur Mòrags leises Summen, das mich hoffen ließ, ich sei endlich am richtigen Ort, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.
Caitlynn und ihr Mann waren wunderbare Menschen, und sie hatten sich sehr bemüht, meinen Aufenthalt in ihrem Gasthaus so angenehm wie möglich zu gestalten, aber jede Nacht waren die finsteren Erinnerungen zu mir zurückgekehrt: der Hass und die Missgunst meiner Verwandten, die Einsamkeit einer traurigen Jugend und nicht zuletzt die Brutalität meines Verlobten. Es waren fast immer Kleinigkeiten gewesen, die ihn ausrasten ließen. Das erste Mal hatte er mich geschlagen, als ich aus Versehen seine Lieblingskrawatte zu heiß gebügelt und damit ruiniert hatte. Niemals werde ich den Anblick vergessen, wie das Blut von meiner aufgeplatzten Lippe auf dem glühenden Bügeleisen verdampfte. Anschließend hatte er sich zwar entschuldigt, aber schon damals hätte ich wissen müssen, dass es wieder passieren würde. In der
Öffentlichkeit hatte er sich immer im Griff, nur zu Hause rastete er wegen jeder Kleinigkeit aus. Gewalt auszuüben, machte ihm einfach Spaß.
Einen Spaß ganz anderer Art hatten sich meine Cousins erlaubt, die verbreitet hatten, ich sei eine stadtbekannte Kleptomanin und bereits mehrmals beim Ladendiebstahl erwischt worden. Damit wollten sie erreichen, dass meine Großmutter ihnen und nicht mir die Anteile an der Firma überschrieb. Zum Glück hatte sie die Lüge durchschaut, aber ich war angesichts dieser Gemeinheit vollkommen fassungslos gewesen.
Schon seit drei Jahren machte ich
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