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Wind & Der zweite Versuch

Wind & Der zweite Versuch

Titel: Wind & Der zweite Versuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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letzten Jahrhundert war von bis zu zweitausend Schwanenpaaren die Rede. Belinda sah einmal über die Stadt hin, neben der Kuppel der Kathedrale hielt nur der neue Universitätsturm aus Glas ihr Auge fest, alles andere war so mustergültig grau in grau verwaschen, daß man es kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Das bedrückende Alter der Stadt war ihr noch nie so bewußt gewesen wie heute abend. Sie war am idealen Ort, um ihre Depression zu pflegen: am ehemaligen Hafen wohnten die ärmsten Einwohner Galways, und hier ging man nachts einfach nicht hin, es sei denn, man gehörte zu den Studenten, die als Mutprobe durch das verseuchte Wasser des Sees zu den Pfeilern der ehemaligen Eisenbahnbrücke hinschwammen, hinaufkletterten und sich oben mit irgendeiner der gerade modischen Drogen bedröhnten. Letzten Sommer war einer heruntergefallen und ertrunken, aber die Pfeiler abzureißen, galt als indiskutabel. Belinda selbst wäre dagegen gewesen, sie hatte als Jugendliche hier Tagträume davon gehabt, mit einer dampfenden Eisenbahn über die Brücke hinwegzurattern, in altmodischen Kleidern aus Seide, am Arm eines ebenso altmodisch gekleideten, hübschen jungen Mannes. Pubertätsphantasien. Seide … Bei »Seide« fiel ihr der Grund für ihre momentane Stimmung wieder ein, und sie preßte die Lippen aufeinander. Seit dem Sommer waren im Institut immer wieder Meldungen über Spinnenplagen eingegangen, aus Amerika zuerst; scheinbar hatten die Tiere, die sonst nicht vergesellschaftet lebten, urplötzlich einen Gruppentrieb entwickelt und zogen angeblich gemeinsam zu Tausenden umher; es sollte sogar vorgekommen sein, daß sie kleine Dörfer überfielen und sich in den Häusern breitmachten, aus denen die Menschen in Panik geflohen waren. Belinda, als die erfahrene Arachnologin, die sie war, hatte das zunächst, wie ihre Kollegen, für bloße Sensationsmeldungen ohne jede faktische Grundlage gehalten, aber die Meldungen über das seltsame Verhalten der Spinnen waren nicht abgerissen. Sorgsamer recherchierte Berichte brachten ans Licht, daß sich die Spinnen keineswegs gegen die Menschen verschworen hatten, um sie heimzusuchen, sondern daß sie sich zwar ohne erkennbaren Grund zusammenrotteten, sich dann aber in einer Art Freßorgie gegenseitig niedermachten. Was Belinda verwunderte, war die Bandbreite der betroffenen Arten und die Tatsache, daß außer Amerika, Europa und dem europäischen Teil Rußlands nur noch Madagaskar betroffen schien, jedenfalls gab es aus anderen Ländern keine Berichte. Das Thema war wieder aus den Nachrichten verschwunden, als es sich journalistisch erledigt hatte, aber die Spinnen änderten ihr Verhalten deswegen nicht, und die wissenschaftliche Gemeinde hatte von Belindas Institut Aufklärung darüber erwartet, weil es als das renommierteste galt. Belinda hatte von Anfang an auf eine biochemische Ursache für die Veränderung des Spinnenverhaltens gesetzt, die Spinnen waren evolutionär gesehen einfach zu alt und zu erfolgreich, um über Nacht ihr ganzes arttypisches Verhalten zu ändern. Außerdem hatte sie sofort bei den Berichten aus Madagaskar ein Detail erfaßt, das vielen anderen Interessierten offenbar weniger deutlich aufgefallen war: es war davon die Rede, daß Spinnennetze, die bei der madagassischen Nephila einen Durchmesser von einem Meter erreichen konnten, plötzlich entweder verkümmert waren, oder ganz fehlten, dafür beobachtete man jetzt häufig Nephilaindividuen, die sich gegenseitig auffraßen. Nachdem sie andere Berichte kritisch auf Hinweise bezüglich der Spinnennetze durchforscht und mit Kollegen in den wenigen verbliebenen Instituten in Nordamerika gesprochen hatte, war klar, daß das verrückte Verhalten der Spinnen auf ihre Schwierigkeiten mit den Netzen, oder besser gesagt schon mit ihrer Seide, zu tun hatte, und das in einem Drittel der Welt. Belinda hatte nach einem chemischen Mittel gesucht, Spinnen an der Seidenproduktion zu hindern und es sehr rasch gefunden: im Frühjahr hatte ein saudiarabischer Konzern ein biotechnologisch gewonnenes Insektenvertilgungsmittel mit dem Namen »Mirex« auf den Markt gebracht, dessen Hauptinhaltsstoff so wirkungsvoll die Polymerisation der Eiweiße in den Spinndrüsen hemmte, als wäre er eigens dazu hergestellt worden. Tatsächlich sollte er Schädlinge töten, aber er tat nicht nur das, wie Belinda an gesunden Spinnen, die sie von weither hatte importieren müssen, deutlich sah: man fütterte die Tiere einen Tag mit

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