Wind Die Chroniken von Hara 1
mir einen Kuss auf den Mund und verschwand in der Dunkelheit.
Garrett untersuchte derweil das Schloss und trällerte schon wieder diese unbekannte Melodie vor sich hin.
»Was ist das für ein Liedchen?«
»Och, das ist nur ein dummes Lied«, erwiderte Garrett lachend, ohne den Blick von dem morassischen Köter zu lassen. »Eine gute alte Bekannte von mir hat es immer gesungen. In einem anderen Leben, wenn du so willst.«
Schon verstanden. Wenn er nicht darüber reden wollte, meinetwegen.
»Hast du es schon mal mit solchen Dingern zu tun gehabt?«, fragte ich.
»Ein paar Mal«, antwortete er und streifte sich Handschuhe mit abgeschnittenen Fingerspitzen über. »Keine Sorge, das ist nicht so schwierig, wie viele Leute glauben. Mit der nötigen Erfahrung knackst du diese Fressen wie Nüsse.«
»Dann will ich nur hoffen, dass du sie hast: die nötige Erfahrung.«
»Das hoffe ich auch«, antwortete er, während seine Lippen ein Grinsen umspielte. »Meistens scheitern die Ungeduldigen an ihnen.«
Mhm. Die morassischen Hunde hatten schon zahlreichen guten Dieben das Leben gekostet. Deshalb zogen es die meisten, die an einer Tür oder einer Truhe einen schwarzen Hundekopf sahen, vor, unverrichteter Dinge abzuziehen und sich eine leichtere Beute zu suchen.
»Und es macht dir nichts aus, blind zu arbeiten?«, wollte ich wissen. »Schließlich liegt das Schlüsselloch auf der anderen Seite.«
»Ist mir auch schon aufgefallen«, murmelte er. »Und da ich sowieso alles ertaste, brauche ich kein Licht. Geh also ruhig zu deiner Frau, solange es noch nicht zu spät ist. Sobald ich fertig bin, ruf ich euch.«
»Ich würde ganz gern zusehen.«
Das war nicht gelogen.
»Du musst wissen, was du tust«, erwiderte Garrett bloß.
Er holte einen Bund von Nachschlüsseln hervorragender Qualität aus der Tasche.
»Stammen die auch aus Morassien?«
»Nein. Die haben noch bessere Meister angefertigt«, antwortete er lächelnd und schob die Hände zwischen den Stäben des Gitters hindurch. »Na, mach schon …«
»Was denn?«
»Oh … du? Du kannst bei Meloth ein gutes Wort für mich einlegen!«, sagte er lachend und schob den ersten Schlüssel ins Schloss. »Ich hoffe, er ist heute auf unserer Seite.«
Er schwieg eine Weile konzentriert, sodass nur das leise Klackern von Metall zu hören war. Auf seinem Gesicht lag ein angespannter Ausdruck, die Lippen hatte er fest aufeinandergepresst, aber seine Hände zitterten kein einziges Mal. Er musste wirklich nicht hinsehen, um zu wissen, was er tat, weshalb der Dieb verzückt die Spitzen seiner Stiefel betrachtete. Meine Augen hingen dagegen wie gebannt an dem Schloss, das sich jederzeit als Falle entpuppen und zuschnappen konnte. Oder, schlimmer noch, sein Gift ausspucken.
»Die erste Feder wäre überwunden«, bemerkte er.
Mir war das entsprechende Klacken ja entgangen, aber das feine Diebesohr ließ sich offenbar nur schwer täuschen.
»Wie viele sind es noch?«
»So viele, bis es aufspringt.«
»Soll das heißen, du weißt es nicht?«
»Richtig«, erwiderte er gelassen. »Vielleicht kommt noch eine Feder, vielleicht aber auch zwei oder zehn. Diese Dinger sind Handarbeit. Jeder morassische Meister entscheidet sich für eine andere Zahl von Federn, Fallen und Geheimvorrichtungen. Du wirst nie zwei Hunde finden, die absolut gleich sind. Ebendas macht die Sache so schwierig.«
Während unseres Gesprächs arbeitete er unverändert weiter. In den nächsten drei Minuten überwand er drei weitere Federn. Allmählich flößte mir der seltsame Kerl Respekt ein. Hinter all seinen Scherzen und flapsigen Bemerkungen verbarg sich ein echter Meister. Ein ruhiger, erfahrener Mann, der seinen Wert kannte.
»Warum bist du bei mir geblieben?«, fragte er mit einem Mal.
»Hab ich doch gesagt. Ich wollte dir gern zusehen. Oder hast du plötzlich was dagegen?«
»Überhaupt nicht. Im Übrigen schmeichelt mir dein Vertrauen natürlich.«
»Vertrauen?«
»Aber sicher. Ein Fehler von meiner Seite – und der Hund ist von der Leine. In dem Fall stünde dir nur noch ein recht kurzes Leben bevor.« Er grinste schief. »Dich hat also die pure Neugier getrieben, dir anzusehen, wozu ich imstande bin?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich ehrlich. »Ich mag es einfach nicht, untätig rumzusitzen. Und hier passiert wenigstens was.«
»Viele aus der heutigen Generation mögen es nicht, untätig rumzusitzen. Alle eilen immer geschäftig durch die Gegend, wollen etwas erreichen oder verändern, auch
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