Wind Die Chroniken von Hara 1
zögerlich aneignete, ließen sich die Erfolge nicht von der Hand weisen. Er bahnte sich seinen Weg nicht länger durch trockene Büsche, trampelte nicht mehr über feuchten Boden, gab sich alle Mühe, sich am Rand des Pfads zu halten, damit die über dem Weg gespannten Spinnennetze nicht zerstört würden, und versuchte, in die Fußspuren Ga-nors zu treten. Er schnaufte auch nicht mehr ganz so laut, sprach mit gedämpfter Stimme, lauschte auf den Wald und sah sich immer wieder nach allen Seiten um. Vor allem jedoch lief er Ga-nor nicht mehr vor die Füße.
Nun musste der Irbissohn seinen Gefährten weit weniger im Auge behalten als anfangs, außerdem legten sie pro Tag eine ungleich größere Strecke zurück.
Nach der Begegnung mit der Ascheseele verfolgte sie zum Glück niemand mehr. Doch selbst wenn sie die Feinde endgültig abgehängt zu haben schienen, blieb Ga-nor wachsam und eilte vorwärts, als jagten alle sechs Verdammten hinter ihnen her.
Zunächst schlugen sie sich durchs waldbestandene Vorgebirge, das recht bald in Hügelland überging. Nach drei weiteren Tagen lag eine waldige Ebene mit zahlreichen Seen, kleinen Flüssen, Bächen und Schluchten vor ihnen. Undurchdringliche Sträucher, Tannenwälder und düstere Platanen kennzeichneten die Strecke.
Sie mieden alle Wege. Zunächst, als die Gegend noch uneben war, bewegten sie sich parallel zur Straße, später weit links davon. Luk hatte inzwischen jede Orientierung verloren. Wie konnte Ga-nor überhaupt wissen, wohin er ging? Wenn er sich nach der Sonne richten wollte, gelang ihm das nie. Schon bald beschlichen Luk Zweifel, ob all diese Haken und Spiralen, die sie jeden Tag durch den Wald zogen, sie tatsächlich nach Hundsgras brächten. Doch als er Ga-nor gegenüber seine Bedenken anmeldete, erntete er nur ein vielsagendes Schnauben: Der Irbissohn hatte nicht die Absicht, sich in Erklärungen zu ergehen.
Luk seufzte schwer. Nach dem schier endlosen, kräftezehrenden Tagesmarsch glaubte er einfach nicht mehr daran, dass sie jemals an ihr Ziel gelangen würden. Ein Dorf war schließlich keine Stadt, das konnten sie zwischen all den Buchen, Kiefern und Eichen jederzeit übersehen. Sollten sie sich obendrein im Wald verlaufen, könnten sie bis an ihr Lebensende einsam zwischen diesen verfluchten Bäumen herumirren. Da war ja der Sandoner Wald noch besser, denn in dem würden sich wenigstens noch die Hochwohlgeborenen über eine Begegnung mit den Fremden freuen.
Daraufhin beging Luk abermals die Dummheit, Ga-nor zu fragen, in welche Richtung sie sich eigentlich bewegten.
»Nach Osten«, knurrte er.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Da platzt doch die Kröte! Hundsgras liegt im Westen!«
»Trotzdem laufen wir nach Osten«, antwortete Ga-nor, während er stehen blieb, in die Hocke ging und aufmerksam den Boden betastete.
»Aber wieso?!«
»Keine Sorge, ich weiß, was ich tue. Wir sind an eine Stelle gekommen, die nicht ganz sauber war, um die habe ich vorsichtshalber einen Haken geschlagen.«
»Was war denn da?«, maulte Luk. »Mir ist nichts aufgefallen.«
»Da war ein Nest von Gowen. Hast du das nicht gerochen?«
»Äh … doch, schon. Es hat irgendwie merkwürdig gemüffelt. Aber ich habe gedacht, da würde ein komisches Gras wachsen.«
»Gras! Manchmal frage ich mich wirklich, was aus dir würde, wenn du ohne mich unterwegs wärest! Gras! So stinkt ein Walddämon zurzeit der Mauser. Wenn die dich erwischen, dann gute Nacht. Da nehm ich doch lieber einen Tag mehr in Kauf …«
»Wenn da Gowen gelauert haben, sieht die Sache natürlich anders aus«, erwiderte Luk. »Aber wann sind wir endlich da? Diese Lauferei hängt mir zum Hals raus. Diese ewigen Tannen! Ich will wieder unter Menschen! Einen Shaf trinken! Wenn ich weiter hier rumlatschen muss, verrecke ich noch.«
»Einen Shaf will er trinken!«, spie Ga-nor aus. »Deinen Shaf, mein Freund, den trinken jetzt die Nabatorer!«
»Träumen wird man ja wohl noch dürfen.«
»Trink eben einen Schluck Wasser aus dem Bach! Und halt den Mund!« Ga-nor hörte auf, den Boden zu betasten.
»Das ist alles, was du sagen kannst: Halt den Mund! Sei leise! Schrei nicht so!«
»Schrei nicht so!«
»Wer sollte uns denn hier hören?!«
»Will das einfach nicht in deinen Schädel?!« Der Irbissohn ging weiter. »Der Wald liebt die Stille. Deine Schreie sind hier noch in einer League Entfernung zu hören. Flüstere, ich bin schließlich nicht taub.«
Luk schnaufte beleidigt, fuhr jedoch mit gesenkter Stimme
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