Wind Die Chroniken von Hara 1
beide opfern. Ob Ga-nor wohl auch etwas Geld besaß?
Bisher hatte sich Luk über diese Frage noch keine Gedanken gemacht. Wie auch, bei all den Schwierigkeiten, die sie hatten meistern müssen? Er warf einen raschen Blick auf den Irbissohn, der vor ihm herlief. Wahrscheinlich besaß er kein Geld. Kein Kundschafter nahm welches mit, wenn er in die Berge ausrückte, schließlich gab es da nichts zu kaufen. Nein, Ga-nors Geld war mit Sicherheit in der Burg der Sechs Türme geblieben – und jetzt in den Taschen der Nabatorer gelandet!
»Trödel nicht so, Luk«, befahl Ga-nor, ohne sich umzudrehen.
»Da platzt doch die Kröte, ich lauf mir schon die Füße wund!«, murrte dieser. »Noch dazu mit diesem Beil! Wie schnell du wohl vorwärtskämst, wenn du das schleppen müsstest!«
Der Fährtenleser erwiderte kein Wort, sondern ging abermals in die Hocke, um den Boden zu untersuchen. Luk, inzwischen an diese Vorsichtsmaßnahmen gewöhnt, wartete geduldig.
Wie ungerecht die Bewohner aus dem Imperium, vor allem aus den mittleren und südlichen Provinzen, sich doch gegenüber den Nordländern verhalten, dachte er. Für die meisten sind die Irbiskinder nichts als Wilde. Dumme, hitzige und grobe Menschen, die Fell und Leder tragen, in Kilts einherstolzieren und ständig mit ihren Schwertern rasseln. Deshalb glauben viele, die Nordländer taugten zu nichts anderem, als für den Ruhm des Imperiums zu sterben. Sie halten sie für grausame Untiere, die rohes Fleisch essen. Für rothaarige Berserker, die sich das Gesicht mit roter Farbe beschmieren und den Rücken mit merkwürdigen Tätowierungen verunstalten. Und obendrein diesen seltsamen Kriegergott Ug verehren, bei dem erst noch zu klären ist, ob er nicht einen Feind des grundgütigen Meloth darstellte.
Weitere dumme Gerüchte behaupteten sogar, die Klane verspeisten die schwächsten Kinder, die Männer nähmen sich die eigene Enkelin zur Frau und alle badeten in geschmolzenem Schnee, der reich mit dem heißen Blut der Feinde getränkt war.
Manches davon hatte Luk früher selbst geglaubt, Dummheiten wie das Bad im Schnee hatte er aber schon immer für absurd gehalten. Doch auch er hatte der allgemeinen Überzeugung angehangen, die Nordländer seien grob, ungehobelt und unerträglich dumm. Daran hatte sich auch nichts geändert, als er in der Burg der Sechs Türme die ersten Irbiskinder kennengelernt hatte. Im Gegenteil, kurze Wortwechsel bekräftigten nur seine Überzeugung, an den zahllosen Gerüchten müsse etwas dran sein, denn oft genug schrien diese Rotschöpfe ihn an, und mehr als einmal wäre es beinahe zu einer Prügelei gekommen. Deshalb mied Luk sie, was ihm letzten Endes keine große Mühe abverlangte: Die Soldaten versahen ihren Dienst auf den Wehrgängen und am Tor, die Nordländer kundschafteten die Umgegend aus.
Nein, erst die gemeinsame Flucht mit Ga-nor hatte ihn nun dazu gebracht, seine Sicht zu überdenken, konnte er den Irbissohn doch beim besten Willen nicht als Wilden abtun. Der Fährtenleser war keineswegs dumm, grob oder hitzig, sondern erfahren, klug, umsichtig und gelassen, wusste Gefahren gut einzuschätzen und ließ sich nie zu unüberlegtem Tun hinreißen.
»Hier gibt es jede Menge Spuren. Sogar von Pferden«, erklärte Ga-nor mit zusammengekniffenen Augen. Dann trat er überraschend vom Pfad hinunter und sog die Luft ein. »Riechst du das auch?«
Ein Gow?, schoss es Luk durch den Kopf. Eine Ascheseele? Ein Toter? Nach dem Überfall auf die Burg der Sechs Türme rechnete er nun stets mit dem Schlimmsten.
»Nein«, antwortete er. »Was ist denn?«
»Halt dein Beil bereit und gib mir Rückendeckung! Folge mir, aber sieh dich gut um! Wenn du was entdeckst, sag es mir! Leise!«
Sie schlugen sich in das dichte Unterholz rechter Hand vom Fluss. Die dichten Sträucher nahmen ihnen zwar die Sicht auf das Gewässer, aber Luk hörte sein Rauschen. Nach einer Weile schnupperte Ga-nor erneut.
»Was ist?«, wollte Luk wissen und gab sich jede Mühe, nicht allzu geräuschvoll zu atmen. »Welches Monster wartet diesmal auf uns?«
»Das werden wir bald wissen. Und glotz mich nicht so an, ich bin schließlich kein Weibsbild! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Umgebung im Auge behalten? Hohes Gras ist genauso gefährlich wie der Wald. In dem kann sich eine ganze Armee verstecken.«
Luk stieß einen erschreckten Ausruf aus und packte das Beil mit schweißfeuchten Händen fester. Mit einem Mal kam ihm dieser Ort gar nicht mehr harmlos vor.
Entgegen
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