Wind Die Chroniken von Hara 1
zertretenen Ast, der mir möglicherweise das Leben gerettet hatte.
»Das heißt noch gar nichts«, sagte Shen. »Dieser Zweig kann hier schon seit Jahren liegen.«
»Und geknackt hat es wohl auch nur bei mir im Kopf«, blaffte ich ihn an.
»Würd mich nicht wundern«, parierte er. »Es ist einfach zu dunkel, um irgendwelche sicheren Schlüsse zu ziehen.«
Prompt erschien daraufhin in Lahens Händen eine Kugel, die ein türkisfarbenes Licht verströmte und uns eine Sicht von zweihundert Yard schenkte. Mir war aufgefallen, dass Gnuzz zurückgewichen war, als mein Augenstern ihren Zauber gewirkt hatte. Sollte mir nur recht sein. Das würde ihm eine weitere Mahnung sein, Vorsicht walten und sich nicht zu unbedachten Taten hinreißen zu lassen.
»Ist das hell genug?«, fragte sie müde und hielt Shen die Kugel hin.
Der nahm sie bedenkenlos an sich, und wir machten uns auf die Suche nach dem zweiten Pfeil.
»Hier!«, rief Bamuth nach einer Weile und winkte mit dem Fund.
Wir eilten zu ihm. Gnuzz nahm den Pfeil an sich und betrachtete ihn genau. »Treffer! Hier ist Blut dran.« Er fuhr mit der Zunge vorsichtig über die Pfeilspitze. »Von einem Menschen.«
»Ach?«, höhnte Shen. »Hast du schon mal anderes gekostet?«
»Mach doch, dass du wegkommst!«, schrie Gnuzz ihn an.
»Haltet den Mund!«, befahl Lahen. »Egal, ob dieses Blut von einem Menschen stammt oder nicht, eins wissen wir jetzt mit Sicherheit: Hier war jemand oder etwas. Wir sollten heute Nacht einen Posten aufstellen. Sonst wachen wir morgen früh vielleicht nicht mehr auf.«
Durch zustimmendes Schweigen willigten wir in den Vorschlag ein.
Erst am nächsten Abend bot sich eine Gelegenheit, mit Lahen zu sprechen. Fünf Tage hatte ich jetzt darauf gewartet, aber damit hatte ich mich abfinden müssen. Auf alle meine Rufe in Gedanken hatte sie hartnäckig geschwiegen.
Während die drei barfuß unter hohen, goldschimmernden Kiefern lagen, wanderten wir durch die Büsche zu einer Lichtung voller Himbeersträucher, wo wir einen lauschigen Platz entdeckten, an dem wir ohne Zeugen miteinander reden konnten. Lahen hatte unterwegs eine ganze Handvoll großer, duftender Beeren gepflückt, die wir jetzt, auf einem sonnendurchwärmten Stamm sitzend, aßen.
Nachdem Lahen den Stab des Nekromanten eingesetzt hatte, war sie zwar immer noch blass, aber nicht mehr so krankhaft durchscheinend. Auch ihr Haar glänzte wieder. Und die Schwäche hatte sich zu meiner Freude ebenfalls verflüchtigt.
»Wie geht es dir?«
»Bitte?« Sie riss sich von ihren Gedanken los und sah mich kurz verständnislos an. »Oh, besser. Viel besser. Danke. Was meinst du, wer uns da verfolgt hat?«
»Keine Ahnung. Aber auf alle Fälle ist er seit dem Dorf hinter uns her.«
»Eigentlich beunruhigt er mich nicht sonderlich, mein Liebster.«
»Mich auch nicht. Wenn er gewollt hätte, dann hätte er uns längst angegriffen. Die ersten drei Nächte haben wir schließlich alle tief und fest geschlafen. Da hatte er mehr als eine Gelegenheit.«
»Ist dir aufgefallen, wie erfahren er ist? Diese Dummköpfe haben die Spuren übersehen. Aber du hast sie bemerkt, oder?«
»Also …«, antwortete ich zögernd, »sagen wir es so: Ich habe das gesehen, was mich dieser Kerl hat sehen lassen. Das ist keiner, der einfach drauflosstapft. Er hinterlässt kaum Spuren. Der ist mit Sicherheit nicht das erste Mal im Wald. Und den Pfeilen ist er auch mühelos entkommen. Dabei hätte ich mit diesen Schüssen jeden anderen erwischt. Trotzdem hast du recht, über ihn brauchen wir uns wohl nicht allzu viele Gedanken zu machen. Was mir viel mehr Kopfzerbrechen bereitet, ist der Vorfall im Dorf. Du wolltest nicht in Gedanken mit mir darüber sprechen, aber vielleicht erklärst du mir jetzt, wo wir allein sind, wie das alles zu verstehen ist.«
»Du hast es also nicht begriffen?«, fragte sie mit traurigem Gesichtsausdruck.
»Was?«
»Ness«, sagte sie, »ich habe darum nicht in Gedankensprache mit dir darüber geredet, weil ich es nicht konnte. Nicht, weil ich es nicht wollte. Das ist doch wohl ein Unterschied, oder?«
Vermutlich guckte ich ziemlich dämlich aus der Wäsche, denn mein Augenstern seufzte enttäuscht. »Pass auf! Diejenigen, die über die Gabe verfügen, sprechen in solchen Fällen davon, dass ihr Funke erloschen ist. Der Hilss des Nekromanten hat meine Kraft fast vollständig aufgesogen. So ein Stab verlangt nämlich ständig nach deiner Lebenskraft und Magie. Das ist seine Nahrung, wenn du so
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