Wind Die Chroniken von Hara 1
Bodens tropfte Blut. Thia achtete nicht darauf und versuchte verzweifelt, den Wahnsinn in ihrer Brust zu bändigen. Jetzt verstand sie Alenari nur zu gut, die immer und überall sämtliche Spiegel zerschmetterte.
Das Wissen, nicht mehr du selbst zu sein, ertrug schließlich niemand. Dabei hatte Alenari sogar noch Glück gehabt. Sie hatte zwar das Gesicht verloren, ihren Körper aber behalten. Thia konnte sich nicht einmal damit brüsten. Von einer Sekunde auf die andere hatte die Verdammte alles verloren. Alles, worauf sie immer und verdientermaßen stolz gewesen war. Die ewige Jugend und Schönheit – beides war ins Reich der Tiefe eingegangen. Ihr wahrer Körper war zerstört, nur ihr Geist lebte noch. Ebenso wie der Geist und der Körper dieses Dummkopfs, mit dem sie nun verbunden war. In diesem Moment stand der Geist Thias hinter der linken Schulter des Trottels, hielt diesen an festen Zügeln unter Kontrolle und musterte den Widerling.
Wie ein Hund an die Kette war sie an diese sterbliche Hülle gefesselt, der nur eine schrecklich kurze Lebensspanne vergönnt war. Früher oder später würde dieser Körper altern und sterben. Was dann? Noch einmal würde kein Heiler in ihrer Nähe sein …
Da begehrte der Geist dieses Tölpels auf, angestachelt vom Schmerz, der noch immer in seiner Hand loderte. Thia lockerte kurz die Zügel. Bevor sie die Gewalt über den fremden Körper vollständig zurückerlangt hatte, jaulte der Hirte los, als er die blutige Hand sah. »Geh weg!«, schrie er.
Das fahle Weiß des Todes wich aus seinen Augen, sie wurden wieder blau und wässrig.
Fluchend und unter Überwindung all ihres Abscheus legte ihm Typhus von hinten gleichsam die Arme um den Hals und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. Porks Augen weiteten sich, das Fahle kehrte in sie zurück, schließlich erstarrten sie. Gleichzeitig machte sich Thia daran, die erstaunlich starke Seele des Jungen von dieser Hülle abzutrennen, auf dass sie nicht länger die Kontrolle über diesen Körper begehrte.
Die Prozedur gelang ihr zwar, kostete sie aber unglaubliche Mühe. Hätte Thia noch über einen eigenen Körper verfügt, wäre der in Schweiß gebadet gewesen. Denn wann immer sie von dieser Hülle verlangte, eine Handlung durchzuführen, die übers Laufen hinausging, schien es ihr, als würde sie von ihrer rettenden Insel fortgespült und ins Reich der Tiefe geworfen. Wenn sie aber all ihre Kräfte aufbringen musste, die Oberhand über diesen Körper zu behalten, brauchte sie nicht einmal im Traum daran zu denken, irgendeinen auch nur etwas anspruchsvolleren Zauber zu wirken. Damit hatte sie also nicht nur ihren Körper, sondern auch den Großteil ihrer Gabe eingebüßt.
Noch immer verstand sie nicht, wie das hatte geschehen können. Dieser grüne Junge, der durch den Hilss einen unglaublich starken Zauber in sie hinein geschickt hatte, wäre beinahe das Letzte gewesen, was sie in ihrem Leben gesehen hätte. Ihr Schild brannte bis auf den letzten zarten Faden des Zaubers durch. Doch kurz bevor das alles versengende Licht sie, Thia, bekannt als Typhus, auslöschte, beschwor sie das Erstbeste herauf, was ihr einfiel: den Spiegel des Dunkels. Dieser Zauber hätte sie gerettet, allerdings wäre der Preis dafür ein monströses Aussehen gewesen. Aber mit der Zeit hätte sie sich davon sicher erholt. Genau da hatte der Bogenschütze eingegriffen! In Thia hatte in diesem Augenblick ein solcher Schmerz gewütet, dass sie außerstande gewesen war, den blonden Dreckskerl umzubringen, ja, es war ihr noch nicht einmal gelungen, die Pfeile aufzuhalten. Die tödlichen Pfeile. Der Körper vermochte ihre Seele nicht mehr zu beherbergen. Die Verdammte Typhus starb.
Was dann geschehen war, stellte das größte Rätsel für sie dar. Dunkel und Licht hatte sie gesehen, die flackernden Lichter der Menschen um sie herum, das grell orangefarbene Flimmern des Äthers am Firmament. Jeder Versuch, sich an die sterbende Körperhülle zu klammern, scheiterte, da ihr bereits Zähne und Nägel fehlten. Sie wäre langsam ins Reich der Tiefe davongetragen worden – wäre da nicht das strahlende Licht des Heilers gewesen, das sich um ihren silbrigen Seelenfaden legte, ihn verbrannte, jede feindliche Kraft von ihr ablöste, sämtliches Wissen, alle Kenntnisse erbarmungslos einfror und damit das Wesen ihrer Gabe tötete. Es schleuderte sie nach links und nach rechts, tauchte sie in eine eisige Quelle, warf sie in lodernde Flammen, zerquetschte sie, dehnte
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