Wind Die Chroniken von Hara 1
die anderen«, murmelte Luk, als hinter den Bäumen ein Mann von etwa zwanzig Jahren und eine Frau mit einem Sack über der Schulter hervortraten. Es war die Frau, die im Dorf die Ascheseelen erledigt hatte. Sie musste also eine Schreitende oder eine Glimmende sein, das wusste Luk nicht so genau.
»Wer seid ihr?«, fragte der Bogenschütze mit kalter Stimme.
»Ga-nor aus dem Klan der Irbisse. Fährtenleser in der Burg der Sechs Türme.«
»Luk, Soldat der ersten Kompanie im Eisturm in der Burg der Sechs Türme.«
Der junge Mann stieß einen Pfiff aus. »Da hat es euch weit weg von den Buchsbaumbergen verschlagen. Habt ihr euch verlaufen?«
»Wir mussten diesen Weg nehmen.«
»Ach ja? Und weshalb, wenn ich fragen darf?«
Dieser Rotzlöffel gefiel Luk immer weniger. »Aus einem Grund, der den Namen Armee von Nabator und Nekromanten aus Sdiss trägt.«
»Seid ihr schon lange unterwegs?«
»Wir sind aufgebrochen, als die Burg im Sturm genommen wurde.«
»Und warum folgt ihr uns?«
»Weil wir den gleichen Weg haben. Das könnt ihr uns ja wohl nicht vorwerfen.«
»Und wohin wollen wir deiner Meinung nach bitte schön?«, fragte der Rotzlöffel.
»Nach Alsgara natürlich.«
»Tatsächlich?«
»Immer mit der Ruhe, Shen«, sagte die Frau, um sich dann an Luk und Ga-nor zu wenden. »Wir haben uns gerade gefragt, was von eurer Gesellschaft zu halten ist.«
»Oh, im Zweifelsfall wollen wir uns nicht aufdrängen«, brummte der Irbissohn. »Geht ruhig vor und kümmert euch nicht um uns. Dann kümmern wir uns auch nicht um euch.«
»Verfolgt ihr uns seit dem Dorf?«
Luk hätte am liebsten gelogen, aber nach der Miene des Bogenschützen zu urteilen, unterließ er es besser.
»Ja«, antwortete Ga-nor bereits. »Wir sind zwar vor euch aufgebrochen, haben euch dann aber den Vortritt gelassen.«
»Bist du derjenige gewesen, der nachts um unser Feuer gestrichen ist?«, fragte der grauäugige Mann, als er den blutgetränkten Verband Ga-nors bemerkte.
»Ja. Das war ein guter Schuss.«
»Und du bist ein schneller Läufer«, erwiderte dieser, wobei seine Miene schon nicht mehr ganz so mürrisch war. »Und du hattest Glück.«
»Ug schützt die Klugen«, sagte Ga-nor. »Darf ich deinen Namen erfahren?«
»Man nennt mich den Grauen«, antwortete der Mann nach längerem Schweigen und senkte schließlich den Bogen. »Gebt uns eure Waffen, dann dürft ihr euch uns anschließen. Aber dass ihr mir in Sichtweite bleibt! Und auf alle Dummheiten verzichtet.«
Kapitel
11
Die Verdammte Lepra, wie Talki im Volksmund hieß, beteuerte oft genug, dass Spiegel einen gern anlögen, ja, dass sie das sogar dann täten, wenn du sie darum bätest, dir die Wahrheit zu sagen. In der Regel brächen sie bei dieser Aufforderung in schallendes Gelächter aus – und zeigten dir die Realität erst recht verzerrt. Denn Spiegel winden und wenden sich. Und lügen ohne Ende.
»Vertraue nie einem Spiegel, mein Kind«, hatte ihr die alte Vettel einmal mit gütigem Lächeln auf den Lippen und am kalten Shaf nippend gesagt. »Und drehe ihnen niemals den Rücken zu. Denn sie könnten dich versengen.«
Thia hatte ihr nie geglaubt. Sie war sicher, dass ihr ein Spiegel stets die Wahrheit zeigte. Jedenfalls bis heute. Nun täuschte er sie zum ersten Mal. Angewidert betrachtete sie ihr Abbild, das unversehens das eines Fremden geworden war.
Sie wollte heulen. Schreien. Jeden umbringen, der ihr über den Weg lief: diese dummen Bauern ebenso wie die verschreckten Nabatorer. Vor allem aber diejenigen, denen sie dieses Aussehen zu verdanken hatte: das Weibsbild, den bartlosen Wicht, der sich unvermutet als Heiler entpuppt hatte, und den Bogenschützen. Ihn vor allen anderen. Jede Ader würden sie ihm herausziehen und ihn dann zwingen, die eigenen Augen zu fressen.
Aus dem verlogenen Spiegel blickte die Verdammte Typhus nun das tumbe Gesicht eines kraftlosen, pummeligen Burschen mit vollen, aber herabhängenden Lippen und fahlen Augen an, die nicht die eines Menschen waren. Das überstieg ihre Kräfte. Sie schrie erneut wie eine in die Ecke getriebene Wölfin auf und rammte die Faust – Porks Faust – mit aller Kraft auf das verhasste Gesicht. Es zerplatzte. Der Spiegel zersplitterte. Die länglichen, spitzen Scherben hagelten zu Boden und drohten, ihr die nackten Füße – die Füße des Trottels – zu verletzen. Das Gesicht war fort – und immer noch da.
Hier. Bei ihr. An ihr. Für immer.
Die Knochen der rechten Hand brannten, auf die Dielen des
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