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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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anhalten würde. Er musste irgendwo Unterschlupf finden, und seine ganze Hoffnung lag auf diesem Dogan-Ding.
    Als er die Lichtung betrat, hatte er jedoch kaum einen Blick für das runde, mit Blech gedeckte Gebäude unter dem Gitterturm mit dem roten Blinklicht. Er hatte etwas anderes entdeckt, etwas, was seine ganze Aufmerksamkeit fesselte und ihm schier den Atem raubte.
    Sehe ich das? Sehe ich das wirklich?
    »Götter«, hauchte er.
    Dort, wo der Pfad über die Lichtung führte, war er mit irgendeinem glatten, dunklen Material bedeckt, das so blitzblank war, dass es die von dem auffrischenden Wind bewegten Bäume und die noch von der Abendsonne gefärbten Wolken darüber widerspiegelte. Der Pfad endete an einem Felsabbruch. Dort schien die ganze Welt zu enden, bevor sie hundert oder mehr Räder entfernt wieder begann. Dazwischen lag ein gewaltiger Abgrund mit Luftwirbeln, in denen dürre Blätter tanzten. In diesen wirbelnden Luftmassen waren auch Speicherkrähen gefangen. Sie wurden hochgerissen, fielen wieder durch und kämpften hilflos gegen die Wirbel an. Einige, denen die Flügel abgerissen waren, lebten offenbar nicht mehr.
    Tim nahm den riesigen Abgrund, die verendenden Vögel oder den Wind, der sein langes Haar zerzauste und seine Kleidung flattern ließ, jedoch kaum wahr. Links neben dem glänzenden Pfad, ganz dicht an dem Abbruch, wo die Welt ins Nichts abfiel, stand ein runder Käfig mit stählernen Gitterstäben. Davor lag ein umgekippter verbeulter Zinkeimer, den er nur allzu gut kannte.
    Hinter den Gitterstäben lief ein riesiger Tyger langsam vor dem Loch im Käfigboden auf und ab.
    Er bemerkte den Jungen, der mit offenem Mund dastand und ihn anstarrte, und kam ans Gitter. Die Augen waren so groß wie die Bälle beim Schlagballspiel in Tree, aber nicht blau wie diese, sondern leuchtend grün. Auf den Flanken wechselten sich dunkle orangerote mit pechschwarzen Streifen ab. Die Lauscher waren gespitzt. Er zog die Lefzen hoch, ließ lange, weiße Reißzähne sehen und knurrte. Ein sanftes Geräusch, das sich anhörte, als würde jemand ein Seidenkleid entlang der Naht aufreißen. Das mochte eine Begrüßung sein – obwohl Tim da so seine Zweifel hatte.
    Der Tyger trug ein silbernes Halsband, an dem zwei Gegenstände baumelten. Der eine davon schien eine Spielkarte zu sein. Der andere war ein merkwürdig geformter Schlüssel.

Tim hatte keine Ahnung, wie lange er im Bann dieser fabelhaften smaragdgrünen Augen verharrte oder wie lange er noch so dagestanden hätte, als die extreme Gefahr seiner Lage sich durch eine Serie dumpfer Knalle ankündigte.
    »Was ist das?«
    »Bäume jenseits des Großen Canyons«, sagte Daria. »Der extreme Temperatursturz zertrümmert sie. Sieh zu, dass du Unterschlupf findest, Tim.«
    Der Stoßwind – was sonst. »Wie lange dauert es, bis das hier ankommt?«
    »Weniger als eine Stunde.« Wieder einer dieser lauten Klicks. »Ich sollte mich abschalten.«
    »Nein!«
    »Ich habe gegen Weisung neunzehn verstoßen. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, dass ich sehr lange mit niemand mehr reden konnte.« Klick! Dann – weitaus besorgniserregender, irgendwie bedrohlicher – klunk!
    »Was ist mit dem Tyger? Ist er der Wächter des Balkens?« Sobald Tim das ausgesprochen hatte, erfüllte ihn Entsetzen. »Ich darf nicht zulassen, dass ein Wächter des Balkens hier draußen im Stoßwind stirbt!«
    »Der Wächter des Balkens an diesem Ende ist Aslan«, sagte Daria. »Aslan ist ein Löwe, und wenn er noch lebt, dann weit von hier im Land des ewigen Schnees. Dieser Tyger ist … Weisung neunzehn! « Es folgte ein noch lauteres Klicken, als sie die Weisung ignorierte – um welchen Preis, konnte Tim nicht einmal ahnen. »Dieser Tyger ist die Magie, von der ich gesprochen habe. Kümmere dich nicht um ihn. Sieh zu, dass du Unterschlupf findest. Leb wohl, Tim. Du warst mein Fr…«
    Diesmal kein klick!, auch kein klunk!, sondern ein grässliches Knirschen. Aus der Metallscheibe stieg Rauch auf, und das grüne Licht erlosch.
    »Daria!«
    Nichts.
    »Daria, komm zurück!«
    Aber Daria war dahin.
    Das artilleriefeuerartige Krachen sterbender Bäume war noch weit entfernt, jenseits des wolkenverhan genen Großen Canyons, aber es kam eindeutig näher. Der Wind frischte weiter auf und wurde immer kälter. Hoch am Himmel zogen die letzten Wolkenmassen rasend schnell nach Süden ab. Hinter ihnen tat sich eine erschreckende violette Klarheit auf, in der die ersten Sterne erschienen. Das

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