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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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anstarrte. Und einmal kamen sie an einem Gehölz vorbei, in dem fast mannshohe Riesenpilze mit gelben Kappen in der Größe von Regenschirmen wuchsen.
    »Sind die Pilze hier essbar, Daria?«, fragte Tim, weil der Proviantkorb fast leer war. »Weißt du das?«
    »Das sind sie nicht, Wanderer«, antwortete Daria. »Sie sind hochgiftig. Wenn man auch nur die Sporen auf die Haut bekommt, stirbt man unter Krämpfen. Ich rate zu äußerster Vorsicht.«
    Diesen Ratschlag befolgte Tim sofort. Er hielt sogar die Luft an, bis sie an dem Gehölz mit den todbringenden, sonnengelben Pilzen vorbei waren.
    Gegen Ende des dritten Tages verlief der Pfad auf einer nicht sehr breiten Felsterrasse, unter der eine schier bodenlos tiefe Schlucht lag. Der Grund war mit weißen Blumen bedeckt, die so dicht standen, dass Tim sie zunächst für eine auf die Erde gefallene Wolke gehalten hatte. Der aufsteigende Duft war betörend lieblich. Überspannt wurde dieser Abgrund von einer Felsbrücke, deren jenseitiges Ende durch einen Wasserfall führte, der im zurückgeworfenen Licht der untergehenden Sonne blutrot leuchtete.
    »Muss ich über diese Brücke hier?«, fragte Tim mit schwacher Stimme. Die Brücke schien nicht viel breiter als ein Scheunenbalken zu sein … und in der Mitte nicht viel stärker.
    Keine Antwort von Daria, aber das stetig leuchtende grüne Licht war Antwort genug.
    »Vielleicht morgen früh«, sagte Tim. Er wusste, dass er keinen Schlaf finden würde, weil er ständig an die Brücke würde denken müssen, aber er wollte den Übergang auch nicht bei herabsinkender Nacht wagen. Die Vorstellung, den letzten Teil der schmalen Brücke im Dunklen bewältigen zu müssen, war grauenerregend.
    »Ich rate dazu, sie jetzt zu überqueren«, sagte Daria. »Der Dogan North Forest Kinnock sollte schnellstmöglich erreicht werden. Eine Umgehung ist nun nicht mehr möglich.«
    Angesichts der Schlucht, über die nur diese riskante Brücke führte, wusste Tim auch ohne Daria, dass eine Umgehung nicht mehr möglich war. Trotzdem …
    »Warum kann ich nicht bis morgen früh warten? Das wäre bestimmt sicherer.«
    »Weisung neunzehn.« Aus der Metallscheibe kam ein ungewohnt lautes Klicken, dann fügte Daria hinzu: »Aber ich rate zur Eile, Tim.«
    Er hatte sie mehrmals gebeten, ihn nicht Wanderer, sondern bei seinem Vornamen zu nennen. Jetzt hatte sie es zum ersten Mal getan, und das überzeugte ihn. Tim ließ – nicht ohne Bedauern – den Flechtkorb der Sumpfbewohner zurück, weil er Angst hatte, dieser könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Er stopfte sich die beiden letzten Popkins vorn ins Hemd, schlang den Wasserschlauch über die Schultern und überzeugte sich davon, dass die Axt seines Vaters und der Vierschüsser fest im Gürtel steckten. Dann trat er an die Brücke und blickte auf die Blumenpracht hinunter. Die tieferen Lagen füllte bereits der erste Abendschatten. Er stellte sich vor, wie er den nie mehr gutzumachenden einen Fehltritt tat; sah sich mit den Armen rudern, während er das Gleichgewicht zurückzugewinnen suchte; spürte seine Füße den Fels verlassen und ins Leere treten; hörte seinen gellenden Schrei am Anfang des Sturzes. Er würde noch einige Augenblicke Zeit haben, das Leben zu betrauern, das er hätte leben können, und dann …
    »Daria«, sagte er mit angsterfüllter Stimme. »Muss ich wirk lich?«
    Keine Antwort. Aber das war die Antwort. Tim trat auf die Brücke.

Der Klang seiner Stiefelabsätze auf dem Fels war erschreckend laut. Er wollte nicht nach unten sehen, aber ihm blieb nichts anderes übrig; wenn er nicht darauf achtete, wohin er trat, wäre sein Schicksal so gut wie besiegelt. Die Felsbrücke begann breit wie ein Dorfweg, aber als er die Mitte erreichte, war sie – wie befürchtet, obwohl er gehofft hatte, seine Augen spielten ihm nur einen Streich – nur noch so breit wie seine Kurzstiefel. Er versuchte mit seitlich ausgestreckten Armen zu gehen, aber die durch die Schlucht wehende Brise blähte sein Hemd auf, sodass er glaubte, er müsse gleich wie ein Drachen aufsteigen. Also ließ er die Arme wieder sinken und setzte leicht schwankend einen Fuß vor den anderen. Er war fest davon überzeugt, dass sein Herz die letzten tollen Schläge hämmerte und sein Verstand die letzten wirren Gedanken dachte.
    Mama wird nie erfahren, was mir zugestoßen ist.
    Auf halber Strecke war die Brücke am schmalsten und auch am dünnsten. Tim konnte ihre Zerbrechlichkeit unter sich spüren, und er konnte

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