Wind (German Edition)
Maultiere. Auch wenn Tim verstand, dass die Leute sich um ihren eigenen Besitz kümmern wollten, wenn sich ein Sturm wie der Stoßwind ankündigte, machte ihn das zornig. Eine Frau, die blind und hilflos war, den Unbilden eines Sturms auszusetzen … das war nicht recht. Und es entsprach nicht dem Nachbarschaftsgeist der Einwohner von Tree.
Jemand hat sie in Sicherheit gebracht, dachte er . Wahrscheinlich ins Versammlungshaus.
Dann hörte er in der Scheune eine Tierstimme, die keinem ihrer Maultiere gehörte. Tim steckte den Kopf hinein und lächelte. Sunshine, der kleine Esel der Witwe Smack, stand dort angebunden vor einem Berg Heu und mampfte vor sich hin.
Tim griff in seine Tasche. Für einen kurzen Moment ergriff ihn Panik, weil er das Fläschchen mit dem kostbaren Inhalt nicht gleich finden konnte. Dann ertastete er es unter dem Dibbin und atmete erleichtert auf. Er stieg die Verandatreppe hinauf (deren wie immer knarrende dritte Stufe ihm die Illusion verschaffte, ein Junge in einem Traum zu sein) und öffnete lautlos die Tür. Im Häuschen war es warm, denn die Witwe hatte im Kamin ein gutes Feuer angelegt, das erst jetzt zu grauer Asche und hellroter Glut heruntergebrannt war. Sie selbst saß mit dem Rücken zu ihm im Sessel seines Da’s und schlief.
Obwohl es ihn drängte, zu seiner Mutter zu kommen, nahm er sich die Zeit, die Stiefel auszuziehen. Die Witwe war hergekommen, als sonst niemand an Nell Ross gedacht hatte; sie hatte Feuer gemacht, damit es hier warm war; selbst angesichts eines Sturms, der das Dorf zu verwüsten drohte, hatte sie nachbarschaftlich gehandelt. Tim hätte sie um keinen Preis der Welt aus dem wohlverdienten Schlaf aufwecken wollen.
Er schlich auf Zehenspitzen zur offenen Schlafzimmertür. Seine Mutter lag im Bett. Sie hatte die Hände über der Tagesdecke gefaltet und starrte mit blicklosen Augen zur Zimmerdecke hinauf.
»Mama?«, flüsterte Tim.
Weil sie sich nicht gleich bewegte, streifte ihn eisige Angst. Du kommst zu spät, dachte er. Sie liegt tot da.
Dann stützte sich Nell auf die Ellbogen auf, sodass ihr Haar wie ein Wasserfall auf das Daunenkissen hinter ihr fiel. Auf ihrem Gesicht stand unbändige Hoffnung. »Tim? Bist du’s … oder träume ich nur?«
»Du bist wach«, sagte er.
Und stürzte zu ihr.
Ihre starken Arme umschlangen ihn, und sie bedeckte sein Gesicht mit den innigen Küssen, die nur einer Mutter zustanden. »Ich dachte, du wärst tot! O Tim! Und als der Sturm losgebrochen ist, war ich mir meiner Sache erst recht sicher und wäre am liebsten gestorben. Wo bist du gewesen? Wie konntest du mir so das Herz brechen, du böser Junge?« Und dann begann die Küsserei von Neuem.
Tim ließ es sich lächelnd gefallen und genoss Nells vertrauten frisch gewaschenen Duft, bis ihm wieder einfiel, was Maerlyn gesagt hatte: Was tust du als Erstes, wenn du heimkommst?
»Wo bist du gewesen? Erzähl es mir!«
»Ich erzähle dir alles, Mama, aber erst musst du dich auf den Rücken legen und die Augen weit aufmachen. So weit du nur kannst.«
»Wozu?« Sie betastete weiter sein Gesicht, als wollte sie sich vergewissern, dass es wirklich er war, der da auf ihrer Bettkante saß. Die Augen, die Tim wieder sehend zu machen hoffte, starrten ihn an … und durch ihn hindurch. Sie wirkten jetzt leicht milchig. »Wozu, Tim?«
Das wollte er nicht sagen, damit sie nicht enttäuscht war, wenn das Mittel nicht anschlug. Er glaubte nicht, dass Maerlyn gelogen hatte – es war der Zöllner, der das Lügen zu seinen Hobbys zählte –, aber der alte Magier konnte sich ja getäuscht haben.
Bitte, bitte, er soll sich nicht getäuscht haben!
»Nicht jetzt. Ich habe nämlich eine Medizin mitgebracht, aber es gibt nur sehr wenig davon, deshalb musst du ganz stillhalten.«
»Ich verstehe kein einziges Wort von all dem, was du da redest.«
In ihrem Dunkel musste Nell glauben, nun die Stimme des toten Vaters statt des lebenden Sohns zu hören. »Dir muss genügen, dass ich weit gewandert bin und viel gewagt habe, um das hier zu erlangen. Und jetzt lieg still!«
Sie tat wie geheißen und sah mit blinden Augen zu ihm auf. Ihre Lippen zitterten.
Das taten auch Tims Hände. Er befahl ihnen stillzuhalten, was sie erstaunlicherweise auch prompt taten. Dann atmete er tief ein, hielt die Luft an und schraubte das kostbare Fläschchen auf. Den kleinen Rest, den es noch enthielt, saugte er mit dem Tropfer auf. Die Flüssigkeit füllte das dünne Glasröhrchen nicht einmal halb. Er beugte
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