Wind (German Edition)
ist jedoch eine Geschichte für ein andermal.
Der Dibbin stieg höher, bis die Welt unter ihnen wie eine Landkarte ausgebreitet dalag. Die Magie, die Tim und den Tyger vor dem Stoßwind geschützt hatte, bewährte sich weiterhin, denn obwohl er die letzten eisigen Atemzüge des gewaltigen Sturms spüren konnte, war ihm behaglich warm. Er saß wie ein junger Prinz aus der Mohainewüste auf einem Elefanten mit untergeschlagenen Beinen auf dem fliegenden Tischtuch und hielt Garudas Feder vor sich. Er fühlte sich wie Garuda, der über einer endlosen Wildnis schwebte, deren dunkles Grün fast schwarz war. Trotzdem wies dieses Grün eine lange, graue Narbe auf, so als ließe ein aufgeschlitztes Kleid ein schmutziges Unterkleid sehen. Der Stoßwind hatte eine Spur der Verwüstung hinterlassen, aber der Wald als Ganzes hatte kaum gelitten. Die Spur des Stoßwinds war nicht breiter als vierzig Räder.
Trotzdem hatte eine Breite von vierzig Rädern genügt, den Fagonard zu verwüsten. Das schwarze Sumpfwasser war zu gelblich weißen Eisschollen gefroren. Die aus dem Wasser ragenden knorrigen, grauen Bäume waren alle zersplittert und umgestürzt. Die Grasinseln waren nicht mehr grün; sie schienen jetzt aus Milchglas zu bestehen.
Das Boot des Stammes war vor einem dieser Hügel auf Grund gelaufen und lag schräg auf der Seite. Tim musste an Steuermann und Großmann und alle anderen denken und brach in bittere Tränen aus. Wären sie nicht gewesen, würde er jetzt erfroren auf einem der Inselchen zweihundert Meter unter ihm liegen. Die Sumpfbewohner hatten ihn gerettet und ihm seine gute Fee Daria geschenkt. Das war einfach nicht gerecht, nicht gerecht, nicht gerecht! So rief sein Kinderherz, und dabei starb sein Kinderherz ein wenig. Denn auch das ist der Lauf der Welt.
Bevor er den Fagonard hinter sich ließ, sah er noch etwas, was ihm Herzschmerzen bereitete: einen großen dunklen Fleck, wo das Eis geschmolzen war. Rußige Eisschollen dümpelten um einen großen, gepanzerten Kadaver, der wie ein gestrandetes Schiff auf der Seite lag. Das war der Weiberdrache, der ihn verschont hatte. Tim konnte sich vorstellen – aye, nur allzu gut –, wie der Drache mit feurigen Atemstößen gegen die Kälte hatte ankämpfen müssen, bis der Stoßwind zuletzt doch, wie überall im Fagonard, Sieger geblieben war. Das weite Sumpfgebiet war nur noch eine todesstarre Eiswüste.
Über dem Eisenholzpfad ging der Dibbin tiefer. Er sank sanft herab und setzte am Cosington/Marchly-Abzweig auf. Bevor er den Boden erreichte, hatte Tim noch beobachten können, dass der Stoßwind, der ursprünglich genau nach Süden unterwegs gewesen war, nach Westen geschwenkt war. Und die Schäden schienen hier geringer zu sein, so als wäre der Sturm bereits in höhere Luftschichten abgelenkt worden. Das ließ Tim hoffen, dass sein Dorf verschont geblieben war.
Er betrachtete den Dibbin nachdenklich, dann bewegte er die Hände über ihn hinweg. »Falten!«, sagte er (und kam sich dabei ein bisschen dämlich vor). Der Dibbin tat nichts dergleichen, aber als Tim sich bückte, um selbst Hand anzulegen, faltete das Tuch sich einmal, dann zweimal, dann dreimal zusammen, wobei es immer kleiner, aber keineswegs dicker wurde. Binnen Sekunden sah es wie eine auf dem Weg liegende gewöhnliche Leinenserviette aus. Allerdings nicht wie eine, die man hätte benutzen wollen, denn mitten auf der Oberseite prangte ein Stiefelabdruck.
Tim steckte sie ein und machte sich auf den Weg. Und als er die Blossiehaine erreichte (wo die meisten Bäume noch standen), rannte er los.
Er umging das Dorf, weil er keine Zeit damit verlieren wollte, Fragen zu beantworten. Ohnehin hätten nur wenige Leute Zeit für ihn gehabt. Der Stoßwind hatte Tree zwar größtenteils verschont, aber Tim sah Farmer ihr Vieh versorgen, das sie aus einstürzenden Scheunen gerettet hatten, und prüfend ihre Felder abschreiten. Die Sägemühle war offenbar in den Fluss geweht worden. Die Trümmer waren jedenfalls fort, sodass jetzt lediglich die Grundmauern an Tims ehemalige Arbeitsstätte erinnerten.
Er folgte dem Stape wie an dem Tag, an dem er den Zauberstab des Zöllners gefunden hatte, mit dessen Hilfe ihm in einem alten Blecheimer trügerische Visionen gezeigt worden waren. Ihre Quelle, die gefroren gewesen war, taute bereits auf, und obwohl einige Blossieschindeln fehlten, stand ihr Häuschen unerschütterlich da. Seine Mutter schien allein zu sein, denn auf dem Hof standen weder Buckas noch
Weitere Kostenlose Bücher