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Wind (German Edition)

Wind (German Edition)

Titel: Wind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sich damit über Nell.
    »Ganz still, Mama! Versprich mir das, denn vielleicht brennt es.«
    »So still ich nur kann«, flüsterte sie.
    Ein Tropfen ins linke Auge. »Geht’s?«, fragte er besorgt. »Oder brennt es?«
    »Nein«, sagte sie. »Kühl wie ein Segen. Jetzt bitte auch ins andere Auge.«
    Tim ließ einen Tropfen ins rechte Auge fallen, dann sank er auf die Bettkante zurück und biss sich auf die Unterlippe. Ließ die Milchigkeit schon etwas nach – oder war das nur Wunschdenken?
    »Kannst du etwas sehen, Mama?«
    »Nein, aber …« Ihr stockte der Atem. »Ich sehe Licht! Tim, ich sehe Licht! «
    Sie wollte sich wieder auf den Ellbogen aufstützen, aber Tim drückte sie sanft zurück. Er träufelte einen zweiten Tropfen in jedes Auge. Das würde auch genügen müssen, weil das Glasröhrchen jetzt nämlich aufgebraucht war. Andererseits hätte es auch nichts mehr gebracht, denn als Nell jetzt aufschrie, ließ Tim es vor Schreck auf den Boden fallen.
    »Mama? Mama! Was ist los?«
    »Ich sehe dein Gesicht!«, rief sie aus und legte die Hände auf seine Wangen. Ihre Augen füllten sich jetzt mit Tränen, aber das tat Tim gut, weil sie ihn jetzt ansahen, anstatt durch ihn hindurchzusehen . Und sie waren so hell wie eh und je.
    »O Tim, o mein lieber Junge, ich sehe dein Gesicht, ich sehe es sehr wohl!«
    Als Nächstes folgte einige Zeit, über die nicht berichtet zu werden braucht – was nur recht ist, weil manche freudigen Augenblicke sich nicht beschreiben lassen.

Du musst ihr die Axt deines Vaters geben.
    Tim griff an seinen Gürtel, zog die Handaxt heraus und legte sie neben Nell aufs Bett. Sie betrachtete sie – sah sie deutlich, was beiden immer noch wie ein Wunder vorkam – und berührte den Stiel, der durch den langjährigen Gebrauch wie poliert war. Dann sah sie fragend zu Tim auf.
    Er konnte nur lächelnd den Kopf schütteln. »Der Mann, von dem ich die Tropfen bekommen habe, hat mich angewiesen, sie dir zu geben. Mehr weiß ich nicht.«
    »Wer, Tim? Welcher Mann?«
    »Das ist eine lange Geschichte, die sich besser bei einem Frühstück erzählen lässt.«
    »Eier!«, sagte sie und wollte aufstehen. »Mindestens ein Dutzend! Mit Schinken aus der Kühlkammer!«
    Tim, der immer noch lächelte, drückte sie sanft ins Kissen zurück. »Ich kann Rührei mit Schinken selbst machen. Ich bring es dir ans Bett.« Dann fiel ihm etwas ein. »Sai Smack kann mit uns essen. Ein Wunder, dass sie von dem ganzen Geschrei nicht aufgewacht ist.«
    »Sie ist gekommen, als der Sturm angefangen hat, und war die ganze Zeit wach, um das Feuer zu versorgen«, sagte Nell. »Wir dachten, der Wind würde das Haus umwehen, aber es hat standgehalten. Sie muss schrecklich müde sein. Weck sie jetzt ruhig auf, Tim, aber ganz sachte.«
    Er küsste seine Mutter noch einmal auf die Wange und verließ das Zimmer. Die Witwe, der das Kinn auf die Brust gesunken war, saß weiterhin im Sessel des Toten am Kamin und schlief. Tim rüttelte sie sanft an der Schulter. Ihr Kopf nickte nach hinten, rollte etwas zur Seite und fiel dann in seine ursprüngliche Lage zurück.
    Tim, den eine schreckliche Gewissheit erfüllte, trat zögerlich vor den Sessel. Von dem Anblick, der sich ihm dort bot, bekam er so weiche Knie, dass er kaum noch stehen konnte. Ihr Schleier war weggefetzt worden. Die Überreste ihres einst schönen Gesichts hingen schlaff und tot herab. Das noch verbliebene Auge starrte Tim blicklos an. Ihr schwarzes Kleid war vorn vor angetrocknetem Blut ganz rostbraun. Jemand hatte ihr die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt.
    Er holte Luft, um zu schreien, aber das wurde auf einmal unterbunden. Starke Hände umklammerten seinen Hals.

Bern Kells hatte sich aus der rückwärtigen Diele herangeschlichen , in der er auf seinem Koffer gesessen und sich daran zu erinnern versucht hatte, warum in aller Welt er die Alte umgebracht hatte. Wahrscheinlich wegen dem Feuer. Immerhin hatte er zwei Nächte lang, vor Kälte zitternd, unter dem Heu in der Scheune des tauben Rincons verbracht, während diese alte Hexe es die ganze Zeit über behaglich warm gehabt hatte. Das war nicht gerecht gewesen.
    Er hatte beobachtet, wie der Junge ins Zimmer seiner Mutter gegangen war. Er hatte Nells Freudenschreie gehört, von denen er jeden wie einen Messerstich in den Eingeweiden gespürt hatte. Sie hatte kein Recht darauf, etwas anderes als Schmerzensschreie auszustoßen. Sie war an all seinem Elend schuld; sie hatte ihn mit festen Brüsten,

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