Wind (German Edition)
Zweifel, weniger an dem Zauberstab als an seiner Fähigkeit, ihn zu benutzen, schwenkte Tim den Stab ziellos über dem Wasser hin und her. Einen Augenblick lang geschah nichts. Er wollte schon aufgeben, als sich auf der Wasseroberfläche auf einmal ein leichter Nebel bildete, in dem sein Spiegelbild verschwand. Als der Nebel sich wieder verzog, erkannte Tim den Zöllner, der zu ihm aufblickte. Wo immer der Zöllner war, war es dunkel, aber jetzt schwebte ein seltsames grünes Licht, nicht größer als ein Daumennagel, über seinem Kopf. Es stieg höher, und in seinem Schein sah Tim eine an einen Eisenholzbaum genagelte Tafel, auf der ROSS/KELLS geschrieben stand.
Der grüne Lichtpunkt stieg in Spiralen höher, bis er sich dicht unter der Oberfläche des Wassers in dem Eimer befand. Tim schnappte nach Luft. In diesem grünen Licht steckte ein Lebewesen – eine winzige grüne Frau mit durchsichtigen Flügeln auf dem Rücken.
Das ist eine Sighe – eine aus dem Elfenvolk!
Offenbar befriedigt darüber, dass sie seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, wirbelte die Sighe wieder fort, setzte sich kurz auf die Schulter des Zöllners und schien dann von dort wegzuspringen. Nun schwebte sie zwischen zwei Pfosten, die einen Querbalken trugen. An dem Balken hing eine weitere Tafel, und wie schon bei der anderen, die den ROSS/KELLS -Claim bezeichnete, erkannte Tim die sorgfältige Druckschrift seines Vaters. DER EISENHOLZPFAD ENDET HIER , besagte die Tafel. JENSEITS BEGINNT DER FAGONARD . Und darunter stand in größeren, schwärzeren Lettern:
REISENDER, GIB ACHT!
Die Sighe flitzte zum Zöllner zurück, zog zwei rasche Kreise um ihn, die spektrale, verblassende Spuren aus grünem Licht zurückzulassen schienen, stieg dann höher und blieb bescheiden neben seiner Wange schweben. Der Zöllner sah Tim direkt in die Augen; eine Erscheinung, die leicht verschwamm (wie Tims Vater, als er dessen Leiche im Wasser gesehen hatte) und trotzdem völlig real, völlig da war. Der Steuereintreiber bewegte eine Hand im Halbkreis über dem Kopf und machte dabei mit Mittel- und Zeigefinger eine scherenartige Bewegung. Dieses Zeichen kannte Tim gut, denn jedermann in Tree benutzte es von Zeit zu Zeit: Beeil dich, beeil dich.
Der Zöllner und die ihn begleitende Elfe verblassten, sodass Tim nur noch sein eigenes Gesicht mit weit aufgerissenen Augen sah. Er schwenkte den Zauberstab noch einmal über dem Eimer, fast ohne zu merken, dass der Stahl in seiner Faust jetzt vibrierte. Der dünne Nebelschleier bildete sich wieder wie aus dem Nichts. Er waberte und löste sich auf. Nun sah Tim ein großes Haus mit vielen Giebeln und vielen Kaminen. Es stand auf einer Lichtung zwischen Eisenholzbäumen, die so ungeheuer dick und hoch waren, dass sie die entlang dem Eisenholzpfad zwergenhaft erscheinen ließen. Bestimmt ragen ihre Wipfel bis in die Wolken, dachte Tim. Ihm wurde unwillkürlich klar, dass diese Lichtung tief im Endlosen Wald lag, weit tiefer, als selbst der mutigste Axtmann aus Tree sich jemals hineingewagt hatte. Die vielen Fenster des Hauses waren mit kabbalistischen Zeichen geschmückt, die Tim bewiesen, dass er das Haus von Maerlyn Eld vor sich hatte. Das Haus, in dem die Zeit stillstand oder sogar rückwärtslief.
In dem Eimer erschien ein kleiner, verschwommener Tim. Er näherte sich der Tür und klopfte an. Sie wurde geöffnet. Auf der Schwelle stand ein lächelnder alter Mann, dessen bis zum Gürtel reichender weißer Vollbart von Edelsteinen glitzerte. Auf dem Kopf trug er einen kegelförmigen Hut im Sonnengelb der Vollerde. Wasser-Tim sprach auf ernste Weise mit Wasser-Maerlyn. Wasser-Maerlyn verbeugte sich und trat in das Haus zurück – das seine Form ständig zu verändern schien (was jedoch am Wasser liegen mochte). Der Zauberer kam mit einem schwarzen Tuch zurück, das aus Seide zu sein schien. Er hob es an die Augen, um seine Verwendung zu demonstrieren: eine Augenbinde. Er hielt es Wasser-Tim hin, aber bevor der andere Tim es nehmen konnte, fiel wieder Nebel ein. Als er sich verzog, sah Tim nur noch sein eigenes Gesicht und einen über ihn hinwegfliegenden Vogel, der es wahrscheinlich eilig hatte, vor Sonnenuntergang in sein Nest zu kommen.
Tim bewegte den Zauberstab ein drittes Mal über dem Eimer und merkte diesmal trotz seiner anhaltenden Faszination, wie der Stahl vibrierte. Als der Nebel sich auflöste, sah er Wasser-Tim bei Wasser-Nell auf der Bettkante sitzen. Ihre Augen waren mit der Augenbinde bedeckt. Als
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