Windbruch
winkte
Büttner ab. „Aber wissen Sie Herr Rhein, ich habe diese Dame damit beauftragt,
den Schreibtisch von Frau Henzler durchzusehen und ihre privaten Dinge
zusammenzusuchen. Tja, und dann wird dieser Ordner wohl privat sein“, sagte er
und zwinkerte der jungen Frau verschwörerisch zu.
„Lüge!“, brüllte Rhein. „Niemals
handelt es sich bei diesem Ordner um eine Privatangelegenheit von Frau Henzler!
Das ist ein Firmenordner, das sieht man doch!“ Wieder versuchte er, seiner
Mitarbeiterin den Ordner zu entreißen.
„Es reicht!“, donnerte Büttner.
„Lassen Sie die Finger von diesem Ordner, Rhein! Ich sagte Ihnen bereits, dass
ich ein Recht darauf habe, ihn an mich zu nehmen und genau das werde ich jetzt
auch tun.“ Damit streckte er seine Hand aus und bedeutete der Frau, ihm den Ordner
auszuhändigen.
Sofort griff Rhein mit seiner
Hand dazwischen.
„Ich warne Sie, Rhein“, zischte
Büttner, „noch einen Griff zu diesem Ordner, und ich kriege Sie dran wegen
Behinderung der Staatsgewalt!“
Rhein zuckte zurück. „Das würden
Sie nicht wagen!“, sagte er mit schneidender Stimme.
„Worauf Sie einen lassen können“,
sagte Büttner nur und fügte dann zu der Frau gewandt hinzu: „Kommen Sie, wir
gehen in ihr Büro, Frau ...“
„Kastner. Ich war Frau Henzlers
Sekretärin.“
„Frau Kastner.“
„Annemarie, zum Diktat, sofort!“,
hörten Sie Rhein noch brüllen, bevor die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.
„Nun, Frau Kastner, was gibt es
denn in diesem Ordner so Dringendes?“, fragte Büttner, als sie alleine waren
und fing an ihn durchzublättern. „Hm, interessant, Gedichte.“
„Ja“, nickte Frau Kastner. „Frau
Henzler hat immer Gedichte geschrieben, sehr poetische, aber manchmal, nun ja,
auch sehr düstere.“
„Aber wahrscheinlich nicht
während ihrer Arbeitszeit“, vermutete Büttner.
„Nein. Nein, natürlich nicht. Sie
hat diesen Ordner hierher gebracht, kurz nachdem sie ...“
„Ja?“
„Nun, kurz nachdem sie aus dem
Krankenhaus entlassen worden war.“
„Hat sie auch gesagt, warum?“
„Nein, doch ... ähm ... nein.
Nicht direkt jedenfalls.“
„Und indirekt?“
„Ich hab mich gewundert. Denn sie
sagte, dass sie nicht wisse, ob der Ordner bei ihr zuhause sicher sei. Deswegen
habe sie alles in einen Firmenordner geheftet und werde ihn hier abstellen.“
„Sie meinen, Frau Henzler hat
geahnt, dass ihr eventuell etwas zustoßen könnte?“
„So hat sie es nicht gesagt. Aber
... ich hatte schon den Eindruck, als sei sie sehr nervös.“
„Aber es sind nur Gedichte.“
„Ja. Ich verstehe es ja auch
nicht.“
„Und Frau Henzler sagte, dass Sie
den Ordner der Polizei übergeben sollen?“
„Nein. Eigentlich sagte sie, dass
Frau Coordes ihn bekommen sollte, falls ...“
„Falls?“
„Falls ihr ... etwas zustieße.“
„Also hat sie geahnt, dass sie
nicht mehr lange leben würde.“
„Ja. Sieht so aus.“ Frau Kastner
schlug plötzlich die Hände vors Gesicht und fing an zu schluchzen. „Es ist
alles so furchtbar! Vielleicht hätte ich ihr helfen können, aber ich habe es
nicht so ernst genommen. Hier waren ja alle so komisch in den letzten Wochen.
Wie verzweifelt muss sie gewesen sein!“
Büttner legte ihr beruhigend die
Hand auf den Arm. „Aber warum geben Sie ihn mir, wenn er eigentlich für Frau
Coordes bestimmt war?“, fragte er leise.
„Ich dachte, dass er bei Ihnen am
sichersten ist. Ich ... traue einfach niemandem mehr, in dieser Firma. Und die
arme Frau Coordes ist ja auch noch so lange krankgeschrieben. Da wollte ich sie
mit dieser Sache nicht aufregen.“
„Nun, ich sehe zwar nicht, wie
man sie mit Gedichten aufregen könnte, aber gut. Ich werde mich darum kümmern.“
„Danke, Herr Kommissar.“
„Keine Ursache. Ich werde den Ordner
bei Frau Coordes vorbeibringen und sie fragen, ob sie weiß, was das zu bedeuten
hat. Auf Wiedersehen, Frau Kastner.“
77
„Darf ich mal sehen?“, fragte
Maarten und griff nach dem Ordner, den der Hauptkommissar am Tag zuvor vorbei gebracht
hatte.
„Natürlich“, nickte Tomke und
kuschelte sich enger an ihn. Sie hatten beschlossen, den ganzen Tag in ihrer
Wohnung zu bleiben und einfach nur rumzugammeln. Tomke hatte am Morgen Brötchen
geholt und war bibbernd vor Kälte zurückgekehrt. Draußen ging ein eisiger Wind,
der ihr schneidend ins Gesicht fuhr, und inzwischen hatte es auch wieder
angefangen zu schneien. Wenn es so weiterginge, würden sie bald genauso
eingeschneit sein,
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