Windbruch
wie im Winter 1978/79, an den sich Maarten und sie nur noch
schemenhaft erinnerten, von dem sie aber in den Alben ihrer Eltern viele Fotos
gesehen hatten. Ganz Ostfriesland hatte damals unter einer mehrere Meter dicken
Schneedecke gelegen; die Versorgung, vor allem der kleinen Dörfer, war über
einige Tage beinahe völlig zum Erliegen gekommen. Nachdem schließlich das
Tauwetter eingesetzt hatte, hatte alles unter Wasser gestanden. Es war ein
absoluter Ausnahmewinter gewesen.
„Hm. Es ist ja schon witzig“,
sagte Maarten in ihre Gedanken hinein.
„Was ist witzig?“
„Na, Inka und du. Dass ihr beide schreibt.
Du Bücher, sie Gedichte.“
„Ja. Muss wohl am Job liegen. Das
Ingenieurswesen hat nun so gar nichts lieblich-romantisches.“
„Nun, wenn ich mir hier Inkas
Gedichte genauer anschaue, dann sind sie von lieblich-romantisch aber weit
entfernt. Die meisten zumindest.“
„Ja, sie muss wohl ein sehr
einsamer Mensch gewesen sein, nach allem, was wir jetzt über sie erfahren
haben. Hätte ich das gewusst, hätte ich sie öfter mit zu meinen Partys eingeladen
oder wäre abends mal mit ihr ausgegangen. Aber so ist es nun mal, wir leben in
einer Welt von Egoisten und registrieren oft erst viel zu spät, wenn bei anderen
etwas schief läuft.“
„Du wirst ja auf einmal so
philosophisch“, frotzelte Maarten und gab ihr einen Kuss auf die Nase.
„Ach was, ich bin nur
nachdenklich. Und ich bin mir ziemlich sicher“, fügte sie mit einem Lächeln
hinzu und gab den Nasenkuss zurück, „dass ich nach all den Ereignissen der
letzten Wochen bestimmt genauso depressiv wäre, wie die arme Inka, wenn ich
mich nicht gerade in einem hormonellen Ausnahmezustand befände.“
„Nanu, so früh schon in den
Wechseljahren!?“, stichelte Maarten.
Tomke nahm ein kleines Sofakissen
und schlug es ihm in gespielter Empörung über den Kopf. „Dir werde ich’s zeigen“,
rief sie, „zur Strafe bekomme ich jetzt mindestens ein halbes Dutzend Kinder.
Wechseljahre! Pah! Du wirst schon sehen, wie lange das noch dauert, wenn du
erstmal zwischen Windeln und Nuckelfläschchen versinkst.“
„Solange dieses halbe Dutzend so
reizend aussieht wie Du, wird es mir eine wahre Freude sein. Von mir aus können
wir gleich mit dem ersten anfangen.“ Maarten beugte sich zu ihr hinüber, und
augenblicklich vergaßen sie die Welt um sich herum.
Später stand Maarten in der Küche
und schnippelte diverses Gemüse und Kartoffeln, aus denen er einen deftigen
Wintereintopf zu kochen gedachte. Er wusste zwar noch nicht genau, wie er es
anstellen sollte, da er sich um die Kunst des Essenkochens bisher nur wenige
Gedanken gemacht hatte. Aber irgendwie würde es schon gehen.
Währenddessen hatte sich Tomke
den Gedichtordner vorgenommen. Sie fand, sie sei es ihrer Kollegin schuldig,
sich die Verse anzuschauen, wenn Inka schon so ausdrücklich darauf bestanden
hatte, dass der Ordner seinen Weg zu ihr fand. Und, das musste sie unumwunden
zugeben, der ein oder andere Vers gefiel ihr sogar sehr gut. Diesen griff sie
dann heraus und las ihn Maarten vor.
„Ich glaube,
hier kommt wieder ein depressiv-romantisches“, rief sie, als sie die nächste
Seite umgeschlagen hatte. Hör mal:
dies jahr, es ist vorbei nun
bald
doch ist es mir im herzen kalt
wenn ich bedenk was ich getan
nur um zu
haben diesen MANN
Oh, guck an,
ich glaube, jetzt erfahren wir mehr über ihre ominöse Liebesbeziehung zu diesem
Mister Unbekannt. Na, da bin ich aber gespannt. Achtung, ich lese weiter:
ich bracht’ viel unglück in
die welt
weil IHM verlangte nach viel
geld
vergiftet hab ich fisch und
meer
auf SEIN
geheiß, s’war SEIN begehr.“
Tomke stutzte und hatte schon die
letzte Zeile nur noch sehr leise und stockend vorgelesen. Maarten ließ langsam
sein Messer sinken, wischte sich die Hände an der Schürze ab und drehte sich
wie in Zeitlupe zu ihr um. „Lies das noch mal!“, sagte er heiser.
Tomke räusperte sich vernehmlich
und begann noch mal von vorne. „Oh mein Gott, das klingt ja, als ob ...“,
flüsterte sie, als sie fertig war.
„Kommt noch mehr?“, fiel Maarten
ihr ins Wort und ließ sich zu ihr aufs Sofa fallen.
„Ja. Ja, es geht noch weiter.
Lies selbst“, antwortete sie.
Maarten
schaute sich die nächsten Strophen des Gedichtes an und wurde blass. Er las:
ich hab familienglück zerstört
weil ich IHM sagte, was ich
hört
weiß ganz genau, ER tat ins
glas
was mann
getötet, was ihn fraß
auch weiß ich heute, WER es
tat
WER
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