Windbruch
Opfer gefallen war.
Um sich vor dem Gespräch mit
Rautschek abzulenken, beschloss Maarten, ein wenig durch die Emder Innenstadt
zu schlendern, denn dazu hatte er bisher kaum Gelegenheit gehabt. Er hatte
sowieso noch einige Erledigungen zu machen, die er schon seit Tagen immer
wieder vor sich hergeschoben hatte. Auch das Wetter hatte sich wieder beruhigt,
ab und zu lugte sogar die Sonne zwischen den Wolken hervor und zauberte hier
und da einen Regenbogen an den weiten Horizont. Maarten setzte sich in seinen
Kleinwagen und parkte ihn einige Minuten später in der Großen Straße. Immer wieder
war er erstaunt, wie einfach es war, in Emden einen Parkplatz zu finden. In allen
anderen Städten, in denen er sich in den vergangenen Jahren aufgehalten hatte,
war es diesbezüglich längst zum Kollaps gekommen.
Als Maarten aufgewachsen war, war
die Große Straße noch keine Fußgängerzone gewesen. Inzwischen aber war sie
attraktiv gestaltet und lud zu einem Bummel durch die meist kleinen, schmucken
Läden ein. Gerade, als Maarten anfing, vor einem Buchladen in einer der
Auslagen zu stöbern, zerrte plötzlich jemand an seinem Hosenbein. Verdutzt
schaute er an seinem Bein herab – und sah in ein fröhlich grinsendes
Kindergesicht. „Tilman“, rief er erfreut, „wo kommst denn du so plötzlich her?“
Als der Junge weiterhin nur strahlend zu ihm aufsah, nahm Maarten ihn gerührt
auf den Arm und drückte ihn an sich. „Ja“, sagte er und strich ihm über den
Rücken, „ich weiß, du kannst mich immer noch nicht hören. Aber daran werde ich
mich wohl nie gewöhnen.“ Verträumt stand er für ein paar Augenblicke einfach
nur da, bis ihm plötzlich ein Gedanke kam. Irritiert schaute er in alle Richtungen.
„Sag mal, Tilman,“ bemerkte er dann, „du bist doch sicherlich nicht ganz
alleine hier. Wo hast du denn deine Mama gelassen?“ Natürlich zeigte der Junge
auch diesmal keine Reaktion und Maarten fragte sich gerade, was er nun machen
sollte, als er Sonja sah, die mit panischem Blick aus einer nahe gelegenen
Bäckerei geschossen kam, den kleinen Nicolas an der Hand.
„Sonja“, rief er schnell und
winkte hektisch mit seinem freien Arm, „Tilman ist hier bei mir!“ Sonja schien
ihn in ihrer Panik nicht gehört zu haben, dafür aber blieb Nicolas so abrupt stehen,
dass seine Mutter ins Straucheln geriet. Als sie sich wieder gefangen hatte und
offensichtlich zum Gezeter anhob, rief Maarten schnell noch einmal ihren Namen.
Nun endlich nahm auch sie ihn wahr, und über ihr Gesicht lief ein Ausdruck
unendlicher Erleichterung, als sie ihren kleinen Sohn friedlich in Maartens
Armen liegen sah. Erst jetzt ging Maarten auf, wie furchtbar es für eine Mutter
sein musste, wenn sie plötzlich ihr Kind aus den Augen verlor und wusste, dass,
egal wie laut sie jetzt rief, dieses Kind sie nicht hören würde. Genau wie
alles andere. Was würde zum Beispiel passieren, wenn Tilman schnurstracks auf
eine viel befahrene Straße zurannte, ohne dabei auf den Verkehr zu achten? Auch
in diesem Fall würde er die Warnrufe seiner Mutter nicht hören, und sie müsste
im schlimmsten Fall machtlos mit ansehen, wie ihr Kind von einem Fahrzeug
erfasst wurde.
Instinktiv drückte Maarten den
kleinen Jungen noch fester an sich. Sonja stand jetzt vor ihm und drückte ihm
den Arm. „Danke“, presste sie sichtlich mitgenommen hervor und strich ihrem
Sohn über das Bein. „Ich habe nichts gemacht“, sagte Maarten. „Tilman stand
plötzlich bei mir und zog an meinem Hosenbein.“
„Er muss dich hier gesehen haben.
Normalerweise rennt er nicht einfach so weg. Umso erschrockener war ich, als er
plötzlich nicht mehr neben mir stand.“ Sonja atmete tief ein und stieß dann
geräuschvoll die Luft aus. „Entschuldige“, sagte sie, „aber ich stehe noch
leicht unter Schock.“
Maarten winkte ab. „Kein Problem.
Ich schlage vor, dass ich euch jetzt erstmal ins Café einlade, wo wir ein
großes Stück Kuchen essen und eine Tasse heiße Schokolade trinken.“
„Das ist lieb von dir, Maarten,
aber leider haben wir nicht mehr viel Zeit. Wir müssen gleich meine Mutter vom
Augenarzt abholen, sie müsste jeden Moment anrufen. Und dann hat sie auch schon
den nächsten Termin.“
„Ich will aber mit Maarten Kuchen
essen“, maulte Nicolas.
Maarten strich dem kleinen Jungen
über den blond gelockten Schopf. „Ist doch kein Problem, Nicolas“, sagte er
beschwichtigend, „das holen wir dann bald mal nach.“
„Will aber jetzt!“ Nicolas zog
einen
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