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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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abgegrenzt, fast wie Straßen. In einer der Lichtphasen spähte er durch eine lange Allee und glaubte, Kolonnaden und Statuen von Menschen oder Tieren zu erkennen, bewegliche Schatten, die nicht vom Tang geworfen wurden. Aber zum Verweilen blieb keine Zeit. Er überwand seine Angst und zwang sich, ins Innere des Wracks vorzudringen.
    Dort herrschte das blanke Chaos. Welche Kräfte die Lythra auch immer entzweigerissen hatten, sie waren auch durch ihre Innenräume gefegt, hatten Kanonen durch Schotts gestoßen, Ketten um Masten gewickelt und Leiber auf gesplitterte Balken gespießt. Schädel waren in Schränke gerollt und hatten sich hinter Türen verkeilt. Knochenhände hatten sich in Fässer verirrt, Wolken von Schlick trübten die Sicht, und ein abscheulicher Fisch mit riesigen Reißzähnen ging jedes Mal, wenn es dunkel wurde, zum Angriff über. Pazel schlug verzweifelt mit seinem Haken nach ihm. Wie sollte man hier unten irgendetwas suchen?
    Als die beiden Jungen abermals mit leeren Händen zurückkehrten, wurden die Volpek wütend. »WENN IHR BEIM NÄCHSTEN MAL NICHTS FINDET, BRAUCHT IHR GAR NICHT MEHR WIEDERZUKOMMEN!«
    Neeps strampelte so heftig mit den Beinen, dass das Wasser aufschäumte. »Sagt das noch mal, ihr hässlichen Jammeraffen! Wollt ihr euch mit mir prügeln? Ja?«
    In diesem Moment tauchte Marila neben ihm auf und rang verzweifelt nach Luft. »Mintu … er ist verschwunden … er ist weg!«
    Sie war halb tot; sie war zweimal so lange unten gewesen wie die Jungen. Die mussten ihr den Kopf über Wasser halten.
    »Wo ist er hingeschwommen, Marila?« Pazel krallte die Finger in ihre Arme. »Sag schon, wohin?«
    »Zum Torbogen!«
    »Den habe ich gesehen!«, rief Neeps. »Du meinst den Korallenbogen? Warum zur Hölle hat er das getan?«
    »Bin hinterher … konnte ihn nicht finden … schrecklicher Ort …«, stieß Marila unter Tränen hervor.
    Krämpfe schüttelten ihren Körper. Die Volpek hievten sie, eher missmutig als besorgt, auf eine Bank. Pazel und Neeps sahen sich nur an. Es gab nichts zu sagen. Sie waren noch nicht bereit für einen neuen Tauchgang, aber es musste sein. Niemand sonst würde auch nur den Versuch unternehmen, Marilas Bruder zu retten.
    Sie schwammen zum dritten Mal hinunter. Auch Pazel hatte so etwas wie einen Torbogen gesehen: eine Öffnung in einer langen, hohen Riffwand, ein ganzes Stück von der Lythra entfernt. Aber was mochte Mintu bewogen haben, dort hineinzuschwimmen? Hatte er dahinter etwas erspäht, einen Schatz, dem er nicht widerstehen konnte? Hatte er gar den Roten Wolf gesehen?
    Pazel war Neeps einige Schwimmzüge voraus. Jetzt sah er, dass der Torbogen tatsächlich ziemlich tief war – ein richtiger Tunnel, etwa zwanzig Fuß lang. Kaum ein Meter Abstand zwischen Dach und Meeresboden. Nicht im Mindesten verlockend, aber Neeps stieß ihn immer wieder an, als wollte er sagen: Nun schwimm schon weiter oder gib den Weg frei! Und er schwamm.
    Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Der Tunnelboden war übersät mit Seeigeln, lebenden schwarzen Nadelkissen, deren Stacheln bei der kleinsten Berührung wie Säure brannten. Außerdem hingen ganze Klumpen von durchsichtigen gelbroten Würmern mit zuckenden Saugmündern von der Tunneldecke. Freie Bahn hatte man nur, wenn man genau die Mitte traf, man musste schnell sein, um weder zu steigen noch zu sinken, aber dabei Hände und Füße dicht am Körper halten. Die gelbroten Würmer ringelten sich ekelerregend. Der Tunnel schien kein Ende zu nehmen.
    Irgendwie kam Pazel unverletzt auf der anderen Seite heraus. Dahinter befand sich eine freie Sandfläche, eine Wiese im Tangwald, hier und da unterbrochen von roten Korallen und hohen Felsen. Von Mintu war nichts zu sehen.
    Als Neeps erschien, verrieten seine Augen, dass er Schmerzen hatte. An seinem Bein hing ein fetter Wurm, der sich bereits mit seinem Blut füllte. Es kostete sie wertvolle Sekunden, das Vieh loszureißen, und dabei nahm es ein Maul voll von Neeps’ Fleisch mit. Pazel betrachtete die Wunde, sah das unterdrückte Entsetzen im Gesicht seines Freundes und musterte die lange Korallenklippe, die sich nach beiden Seiten erstreckte.
    Das war Wahnsinn. Sie mussten sofort zurück, bevor ihre Lungen platzten und Neeps zu viel Blut verlor. Dann zuckte Neeps zusammen. Er packte Pazel am Arm und drehte ihn um.
    Ein halbes Dutzend See-Murten kamen schneller als ein Rudel Haie auf sie zugeschwommen. Es waren die seltsamsten Wesen, die Pazel jemals gesehen hatte.

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