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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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erreicht zu haben. Vor ihm im Mondschein floss der kleine Bach über Steine, und er dachte an die Männer in den alten Zeiten, die wie er Herden und Land besessen hatten.
    Ein phantastischer Impuls, halb Furcht, halb Gier, ergriff Besitz von Jesse Bentley. Er erinnerte sich, wie der Herr in der alten Bibelgeschichte jenem anderen Jesse erschienen war und ihm sagte, er solle seinen Sohn David dahin schicken, wo Saul und die Männer Israels gegen die Philister kämpften, ins Tal von Elah. In Jesses Gedanken hielt die Überzeugung Einzug, dass all die Farmer Ohios, die Land im Tal des Wine Creek besaßen, Philister seien und Feinde Gottes. «Angenommen», flüsterte er bei sich, «es käme unter sie einer, der wie Goliath, der Philister von Gath, mich besiegen und mir meinen Besitz nehmen könnte.» In der Phantasie spürte er die scheußliche Furcht, die, so meinte er, vor der Ankunft Davids schwer auf Sauls Herz gelastet haben müsse. Er sprang auf und rannte durch die Nacht. Beim Rennen rief er Gott an. Seine Stimme schallte weit über die Hügel. «Jehova der Heerscharen», rief er, «schick mir in dieser Nacht aus Katherines Schoß einen Sohn. Lass Deine Gnade auf mich kommen. Schick mir einen Sohn, der David genannt werden wird und der mir helfen soll, endlich all dies Land den Händen der Philister zu entwinden und sie Deinem Dienst zuzuführen und der Errichtung Deines Königreichs auf Erden.»

II
    David Hardy aus Winesburg, Ohio, war der Enkel Jesse Bentleys, des Besitzers der Bentley-Farm. Mit zwölf Jahren ging er zu dem alten Bentley-Haus, um dort zu wohnen. Seine Mutter, Louise Bentley, das Mädchen, das in jener Nacht, als Jesse durch die Felder rannte und Gott anrief, er möge ihm einen Sohn schenken, zur Welt kam, war auf der Farm zur Frau herangewachsen und hatte den jungen John Hardy aus Winesburg geheiratet, der Bankier wurde. Louise und ihr Mann wurden miteinander nicht glücklich, und alle waren sich darin einig, dass die Schuld bei ihr lag. Sie war eine kleine Frau mit aufmerksamen grauen Augen und schwarzen Haaren. Von Kindheit an neigte sie zu Wutausbrüchen, und wenn sie nicht zornig war, so war sie häufig verdrießlich und stumm. In Winesburg hieß es, sie trinke. Ihr Mann, der Bankier, ein achtsamer, gescheiter Mann, bemühte sich nach Kräften, sie glücklich zu machen. Als er begann, Geld zu verdienen, kaufte er für sie ein großes Backsteinhaus in Winesburgs Elm Street, und er war der erste Mann in jener Stadt, der eigens einen Diener hielt, um die Kutsche seiner Frau zu fahren.
    Doch Louise ließ sich nicht glücklich machen. Sie bekam wahnsinnige Wutanfälle, während denen sie mal stumm, mal laut und streitsüchtig war. Sie fluchte und schrie in ihrem Zorn. Sie holte ein Messer aus der Küche und bedrohte ihren Mann mit dem Tode. Einmal setzte sie bewusst das Haus in Brand, und häufig versteckte sie sich tagelang in ihrem Zimmer
und wollte niemanden sehen. Ihr Leben, das sie halb als Einsiedlerin führte, gab Anlass zu allen möglichen Geschichten über sie. Es hieß, sie nehme Drogen und dass sie sich vor den Leuten zurückzog, weil sie so oft unter dem Einfluss von Alkohol stand, dass ihr Zustand sich nicht verbergen ließ. An Sommernachmittagen kam sie manchmal aus dem Haus und stieg in ihre Kutsche. Sie schickte den Fahrer weg, nahm die Zügel in die eigenen Hände und fuhr mit höchstem Tempo durch die Straßen. Stand ihr ein Fußgänger im Weg, fuhr sie unbeirrt weiter, und der verängstigte Bürger musste ausweichen, so gut er eben konnte. Für die Leute in der Stadt hatte es den Anschein, als wollte sie sie überfahren. Wenn sie dann durch etliche Straßen kutschiert war, wobei sie um die Kurven schlitterte und die Pferde mit der Peitsche schlug, fuhr sie aufs Land hinaus. Auf den Landstraßen ließ sie, kaum war sie außer Sichtweite, die Pferde im Schritt gehen, und ihre wilde, rücksichtslose Laune legte sich. Sie wurde nachdenklich und murmelte vor sich hin. Manchmal traten ihr Tränen in die Augen. Wenn sie dann zurück in die Stadt kam, fuhr sie wieder wie rasend durch die stillen Straßen. Und wäre der Einfluss ihres Mannes nicht gewesen und auch nicht der Respekt, den er den Leuten einflößte, so hätte der Marshall der Stadt sie mehr als einmal in Gewahrsam genommen.
    Der junge David Hardy wuchs in dem Haus mit dieser Mutter auf, und wie man sich vorstellen kann, herrschte in seiner Kindheit nicht viel Freude. Er war noch zu jung, um eigene Meinungen zu Leuten zu

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