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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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haben, aber manchmal fiel es ihm schwer, über die Frau,
die seine Mutter war, nicht ganz eindeutige Urteile zu fällen. David war immer ein stiller, ordentlicher Junge, und lange Zeit hielten ihn die Leute von Winesburg für einen kleinen Dummkopf. Er hatte braune Augen, und als Kind hatte er die Angewohnheit, Dinge und Leute lange anzusehen, ohne dass er zu sehen schien, was er da betrachtete. Wenn er hörte, dass unfreundlich über seine Mutter gesprochen wurde, oder wenn er mitbekam, wie sie seinen Vater schalt, wurde er ängstlich und rannte fort, sich zu verstecken. Manchmal konnte er kein Versteck finden, was ihn verwirrte. Dann drehte er das Gesicht gegen einen Baum oder, wenn er im Haus war, gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Er hatte die Angewohnheit, laut mit sich zu sprechen, und schon früh in seinem Leben ergriff häufig ein Geist stiller Trauer von ihm Besitz.
    Wenn David hin und wieder seinen Großvater auf der Bentley-Farm besuchte, war er vollkommen zufrieden und glücklich. Häufig wünschte er, er müsste nie wieder in die Stadt zurück, und einmal, als er von einem langen Besuch auf der Farm heimkehrte, geschah etwas, was einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterließ.
    David war mit einem der Knechte in die Stadt zurückgefahren. Der Mann hatte es eilig, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und setzte den Jungen am Anfang der Straße ab, in dem das Haus der Hardys stand. Es war in der frühen Dämmerung an einem Herbstabend, und der Himmel war wolkenverhangen. Etwas geschah mit David. Er brachte es nicht
über sich, in das Haus zu gehen, in dem seine Mutter und sein Vater lebten, und einer plötzlichen Regung folgend beschloss er, von zu Hause wegzulaufen. Er hatte die Absicht, zur Farm und zu seinem Großvater zurückzukehren, verlief sich jedoch und irrte stundenlang weinend und verängstigt auf Landstraßen umher. Es begann zu regnen, und am Himmel zuckten Blitze. Das regte die Phantasie des Jungen an, und er bildete sich ein, er könne in dem Dunkel seltsame Dinge sehen und hören. In ihm festigte sich die Überzeugung, dass er in einer schrecklichen Leere dahinging und rannte, in der noch niemand je gewesen war. Das Dunkel um ihn herum schien grenzenlos. Das Geräusch des Windes in den Bäumen war furchterregend. Als auf der Straße, auf der er ging, ein Pferdefuhrwerk nahte, bekam er Angst und kletterte über einen Zaun. Er lief über ein Feld, bis er zu einer anderen Straße kam, wo er auf die Knie fiel und mit den Fingern die weiche Erde fühlte. Bis auf die Gestalt seines Großvaters, den er in dem Dunkel niemals zu finden fürchtete, glaubte er die Welt vollkommen leer. Als seine Rufe von einem Farmer gehört wurden, der auf dem Heimweg von der Stadt war, und er zu seinem Vaterhaus gebracht wurde, war er so müde und erregt, dass er nicht wusste, was mit ihm geschah.
    Durch Zufall hatte Davids Vater erfahren, dass er verschwunden war. Er war auf der Straße dem Knecht von der Bentley-Farm begegnet und wusste daher von der Rückkehr seines Sohnes in die Stadt. Als der Junge nicht nach Hause kam, wurde Alarm geschlagen, und John Hardy machte sich mit mehreren Männern aus
der Stadt daran, das Land abzusuchen. Das Gerücht, David sei entführt worden, verbreitete sich in den Straßen Winesburgs. Als er heimkam, brannte im Haus kein Licht, doch seine Mutter erschien und schlang begierig die Arme um ihn. David meinte, sie sei plötzlich eine andere Frau geworden. Er konnte nicht glauben, dass etwas so Herrliches geschehen war. Eigenhändig badete Louise Hardy seinen müden jungen Körper und kochte ihm Essen. Sie ließ ihn nicht zu Bett gehen, sondern blies, nachdem sie ihm das Nachthemd angezogen hatte, die Lichter aus, setzte sich in einen Sessel und hielt ihn in den Armen. Eine Stunde lang saß die Frau im Dunkeln und hielt ihren Jungen fest. Dabei redete sie die ganze Zeit mit leiser Stimme. David begriff nicht, was sie so sehr verändert haben konnte. Ihr gewohnheitsmäßig unzufriedenes Gesicht war, so dachte er, das Friedlichste und Lieblichste geworden, was er je gesehen hatte. Als er weinte, hielt sie ihn nur noch fester. Immer weiter redete die Stimme. Sie war nicht rau oder schrill, wie wenn sie mit ihrem Mann sprach, sondern wie Regen, der auf Bäume fällt. Bald kamen wiederholt Männer an die Tür, um zu berichten, er sei nicht gefunden worden, sie aber sagte ihm, er solle sich verstecken und still sein, bis sie sie

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