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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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unter den Männern Gottes sein. Seine nächtlichen Gänge über die Felder und durch die Wälder hatten ihn der Natur nahegebracht, und in dem leidenschaftlich religiösen Mann waren Kräfte, die zu den Kräften der Natur hinaus wollten. Die Enttäuschung, die ihn überkommen hatte, als Katherine kein Sohn, sondern eine Tochter geboren wurde, traf ihn wie der Schlag einer unsichtbaren Hand, und der Schlag hatte seinen Egoismus etwas gemildert. Er glaubte noch immer, dass Gott sich jeden Moment in den Winden oder Wolken zeigen
würde, doch ein solches Zeichen forderte er nicht mehr. Stattdessen betete er nun darum. Manchmal hatte er tiefe Zweifel und glaubte, Gott habe die Welt verlassen. Er bedauerte das Schicksal, das ihn nicht in einer einfacheren und freundlicheren Zeit hatte leben lassen, in der auf das Zeichen einer eigenartigen Wolke am Himmel Männer Land und Haus verließen und in die Wildnis zogen, um neue Geschlechter zu begründen. Während er Tag und Nacht arbeitete, um die Erträge seiner Farm zu steigern und seinen Landbesitz zu erweitern, bedauerte er, dass er seine ruhelose Energie nicht darauf verwenden konnte, Tempel zu erbauen, die Ungläubigen zu erschlagen und ganz allgemein dazu, Gottes Namen auf der Welt zu preisen.
    Danach dürstete Jesse, und dann dürstete er auch noch nach etwas anderem. Er war in Amerika in den Jahren nach dem Bürgerkrieg gereift und, wie alle Männer seiner Zeit, berührt von den tiefen Einflüssen, die im Land in jenen Jahren wirkten, als der moderne Industrialismus entstand. Er begann, Maschinen zu kaufen, die ihm gestatteten, die Arbeit auf den Farmen zu leisten und dabei weniger Leute zu beschäftigen, und manchmal dachte er, wäre er jünger, würde er die Landwirtschaft ganz aufgeben und in Winesburg eine Fabrik zur Herstellung von Maschinen errichten. Jesse machte es sich zur Gewohnheit, Zeitungen und Zeitschriften zu lesen. Er erfand eine Maschine, die aus Draht einen Zaun herstellte. Schwach wurde ihm bewusst, dass die Atmosphäre alter Zeiten und Orte, die er stets im Geist bewahrt hatte, der Sache, die im Geist anderer heranwuchs, unvertraut und fremd war.
Der Beginn des materialistischsten Zeitalters in der Geschichte der Welt, in dem Kriege ohne Patriotismus ausgefochten wurden, in dem Männer Gott vergaßen und nur moralische Normen beachteten, in dem der Wille zur Macht an die Stelle der Bereitschaft zu dienen trat und in dem über den schrecklichen, ungestümen Drang der Menschheit zum Erwerb von Besitztümern beinahe die Schönheit vergessen wurde, sprach deutlich zu Jesse, dem Mann Gottes, ebenso deutlich wie zu den Männern bei ihm. Das Gierige in ihm wollte schneller Geld machen, als es durch die Bestellung des Landes möglich war. Mehr als einmal ging er nach Winesburg, um mit seinem Schwiegersohn John Hardy darüber zu sprechen. «Du bist Bankier und wirst Möglichkeiten haben, wie ich sie nie hatte», sagte er, und seine Augen leuchteten. «Daran denke ich die ganze Zeit über. Großes wird in dem Land geleistet werden, und mehr Geld wird verdient werden, als ich es mir je erträumt habe. Du wirst daran Anteil haben. Wäre ich doch nur jünger und hätte deine Möglichkeiten.» Jesse Bentley schritt in dem Bankbüro auf und ab und wurde beim Reden zunehmend erregt. Einmal war er von einer Lähmung bedroht gewesen, und seine linke Seite war noch immer etwas geschwächt. Beim Sprechen zuckte das linke Lid. Als er später nach Hause fuhr und es Nacht wurde und die Sterne herauskamen, fiel es ihm schwerer, das alte Gefühl eines nahen und persönlichen Gottes, der im Himmel über ihm war und der jeden Moment die Hand ausstrecken, ihn an der Schulter fassen und ihm eine heldenhafte Aufgabe zuweisen konnte, wiederzuerlangen. Jesse war auf das
fixiert, was er in Zeitungen und Zeitschriften las, auf Vermögen, die von klugen Männern beinahe mühelos durch Kaufen und Verkaufen gemacht wurden. Die Anwesenheit des Jungen David leistete für ihn einen großen Beitrag dazu, dass der alte Glaube mit frischer Kraft zurückkehrte, und ihm war, als blickte Gott endlich wohlgefällig auf ihn.
    Was den Jungen betraf, so offenbarte sich ihm das Leben auf der Farm nach und nach auf tausenderlei neue und herrliche Weise. Die freundliche Haltung aller um ihn herum ließ sein stilles Wesen aufblühen, und er legte das leicht verzagte, zögerliche Betragen ab, das er bei seiner Familie immer gezeigt hatte. Abends, wenn er nach einem langen Tag voller Abenteuer in den

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