Winesburg, Ohio (German Edition)
weggeschickt hätte. Er glaubte, es müsse ein Spiel sein, das seine Mutter und die Männer aus der Stadt mit ihm spielten, und lachte freudig. Ihm kam der Gedanke, es sei vollkommen unwichtig, dass er sich in dem Dunkel verlaufen und Angst gehabt hatte. Er dachte, er wäre bereit gewesen, dieses furchtbare Erlebnis tausendfach durchzustehen, solange er am Ende des langen
schwarzen Weges nur etwas so Liebreizendes fand wie das, zu dem seine Mutter unversehens geworden war.
In den letzten Jahren seiner Kindheit sah der junge David seine Mutter nur selten, und sie wurde für ihn lediglich zu einer Frau, mit der er einmal zusammengelebt hatte. Dennoch ging ihm ihre Gestalt nicht aus dem Kopf, und mit zunehmendem Alter wurde sie immer klarer umrissen. Mit zwölf Jahren zog er auf die Bentley-Farm und lebte dort. Der alte Jesse kam in die Stadt und verlangte geradezu, dass der Junge in seine Obhut gegeben wurde. Der alte Mann war erregt und entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Er redete mit John Hardy im Büro der «Winesburg Savings Bank», danach gingen die beiden Männer zum Haus in der Elm Street, um mit Louise zu sprechen. Beide erwarteten, dass sie Ärger machen werde, doch sie irrten sich. Sie war ganz ruhig, und nachdem Jesse seine Mission erklärt und sich länger über die Vorteile verbreitet hatte, die sich daraus ergäben, dass der Junge im Freien aufwüchse und in der ruhigen Atmosphäre des alten Farmhauses, willigte sie nickend ein. «Es ist eine Atmosphäre, die nicht durch meine Anwesenheit verdorben ist», sagte sie in scharfem Ton. Ihre Schultern bebten, und sie schien kurz vor einem Wutanfall zu stehen. «Es ist ein Ort für einen Jungen, wenn es auch nie einer für mich war», fuhr sie fort. «Du wolltest mich nie da haben, und natürlich tat mir die Luft in deinem Haus nicht gut. Sie war wie Gift in meinem Blut, aber für ihn wird es anders sein.»
Louise wandte sich um, schritt aus dem Zimmer und ließ die beiden Männer in verlegenem Schweigen zurück. Wie es oft geschah, blieb sie danach tagelang auf ihrem Zimmer. Selbst als die Kleider des Jungen gepackt wurden und man ihn fortbrachte, zeigte sie sich nicht. Der Verlust ihres Sohnes bedeutete einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben, und sie schien den Streit mit ihrem Mann nun weniger zu suchen. John Hardy glaubte, alles habe sich wirklich sehr gut entwickelt.
Und so lebte der junge David bei Jesse im Farmhaus der Bentleys. Zwei Schwestern des alten Farmers lebten noch mit auf der Farm. Sie fürchteten sich vor Jesse und sagten in seiner Gegenwart kaum etwas. Eine der Frauen, in jüngeren Jahren für ihre flammend roten Haare bekannt, war die geborene Mutter und nahm sich des Jungen an. Jeden Abend ging sie, nachdem er zu Bett gegangen war, in sein Zimmer und setzte sich auf den Fußboden, wo sie blieb, bis er eingeschlafen war. Wurde er schläfrig, wurde sie verwegen und flüsterte Dinge, von denen er später glaubte, sie geträumt zu haben.
Ihre sanfte, leise Stimme bedachte ihn mit Kosenamen, und er träumte, seine Mutter sei zu ihm gekommen und sie habe sich verändert, sodass sie immer so gewesen sei wie damals, nachdem er fortgelaufen war. Auch er wurde verwegen und streckte die Hand aus und streichelte der Frau auf dem Fußboden übers Gesicht, die davon entzückt und glücklich war. Alle im Haus wurden glücklich, als der Junge da war. Das Harte, Drängende an Jesse Bentley, das die Leute im Haus stumm und verzagt gemacht hatte und das in der
Gegenwart des Mädchens Louise nie verschwunden war, schien nun durch den Jungen wie weggefegt. Es war, als hätte Gott eingelenkt und dem Mann einen Sohn geschickt.
Der Mann, der sich zum einzig wahren Diener Gottes im ganzen Tal des Wine Creek erklärt und der gewünscht hatte, dass Gott ihm mittels eines Sohnes aus dem Schoße Katherines ein Zeichen der Billigung sandte, dachte, seine Gebete seien nun endlich erhört worden. Obwohl zu der Zeit erst fünfundfünfzig Jahre alt, sah er aus wie siebzig und war vom vielen Denken und Planen erschöpft. Die Mühen, denen er sich unterzogen hatte, um seinen Landbesitz auszudehnen, waren erfolgreich gewesen, und es gab im Tal nur noch wenige Farmen, die ihm nicht gehörten, doch bis David kam, war er ein bitterlich enttäuschter Mann gewesen.
In Jesse Bentley wirkten zwei Einflüsse, und sein ganzes Leben lang war er der Schauplatz einer Schlacht dieser Einflüsse. Zum einen war das Alte in ihm. Er wollte ein Mann Gottes und ein Anführer
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