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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Zeit, so wie in jener anderen, älteren, Königreiche geschaffen und dem Leben der Männer durch die Macht Gottes, der durch einen erwählten Diener sprach, neue Impulse gegeben werden konnten. Er sehnte sich danach, ein solcher Diener zu sein. «Um Gottes Werk zu tun bin ich auf dies Land gekommen», erklärte er mit lauter Stimme, und seine kleine Gestalt reckte sich, und er glaubte, über ihm hänge etwas wie ein Heiligenschein göttlicher Billigung.
     
    Vielleicht wird es den Männern und Frauen einer späteren Zeit schwerfallen, Jesse Bentley zu verstehen. Während der letzten fünfzig Jahre hat sich im Leben unseres Volks ein immenser Wandel zugetragen. Ja, eine Revolution hat stattgefunden. Das Aufkommen der Industrialisierung, begleitet von all dem Gedröhne und Geklapper von Geschäften, dem schrillen Geschrei von Millionen neuer Stimmen, die von Übersee zu uns gekommen sind, dem Gehen und Kommen von Zügen, dem Anwachsen von Städten, dem Bau der Trambahnstrecken, die sich zwischen den verschiedenen Städten und vorbei an Farmhäusern schlängeln – und in diesen späteren Tagen bewirkt nun auch das Aufkommen des Automobils eine gewaltige Veränderung im Leben und
in den Denkgewohnheiten unseres Volks der Mitte Amerikas. Bücher, so schlecht erdacht und geschrieben sie in der Hast unserer Zeit auch sein mögen, sind in jedem Haushalt vorhanden, Zeitschriften zirkulieren in Millionenauflagen, Zeitungen sind überall. Heutzutage hat ein Farmer, der im Laden seiner Stadt am Ofen steht, den Kopf bis zum Überlaufen voll mit den Worten anderer Männer. Die Zeitungen und Zeitschriften haben ihn vollgepumpt. Vieles von der brutalen Unwissenheit, die auch eine bewundernswerte, kindliche Form von Unschuld in sich barg, ist auf immer verschwunden. Der Farmer am Ofen ist ein Bruder der Männer in den Städten, und wenn man hinhört, wird man erkennen, dass er ebenso flink und sinnlos daherredet wie der beste Städter von uns allen.
    Zu Jesse Bentleys Zeit und in den ländlichen Bezirken des gesamten Mittleren Westens war es in den Jahren nach dem Bürgerkrieg nicht so. Da arbeiteten die Männer zu hart und waren zu müde zum Lesen. In ihnen war kein Verlangen nach Worten, die auf Papier gedruckt waren. Da sie auf dem Feld arbeiteten, ergriffen vage, nur halb geformte Gedanken von ihnen Besitz. Sie glaubten an Gott und an Gottes Macht, ihr Leben zu beherrschen. In den kleinen protestantischen Kirchen versammelten sie sich sonntags, um von Gott und seinen Werken zu hören. Die Kirchen waren der Mittelpunkt des gesellschaftlichen und geistigen Lebens jener Zeit. Die Gestalt Gottes war in den Herzen der Männer groß.
    Und da Jesse Bentley nun einmal als phantasievolles Kind geboren worden war und einen großen geistigen
Eifer in sich trug, hatte er sich mit ganzem Herzen Gott zugewandt. Als der Krieg ihm seine Brüder nahm, sah er darin die Hand Gottes. Als sein Vater krank wurde und die Farm nicht mehr bewirtschaften konnte, nahm er das ebenfalls als Zeichen von Gott. In der Stadt, als das Wort ihn erreichte, ging er des Nachts durch die Straßen und dachte über diese Sache nach, und als er wieder zu Hause war und die Arbeit auf der Farm einen guten Weg nahm, ging er erneut des Nachts durch die Wälder und über die niedrigen Hügel und dachte an Gott.
    Wie er so ging, wuchs in ihm die Bedeutung seiner selbst in einem göttlichen Plan. Er wurde habsüchtig und konnte es nicht ertragen, dass die Farm nur siebenhundert Morgen umfasste. Er kniete im Zauneck am Rand einer Wiese, und er schickte die Stimme in die Stille hinaus, und als er hinaufblickte, sah er die Sterne, wie sie auf ihn herabschienen.
    Eines Abends, wenige Monate nach dem Tod seines Vaters und während seine Frau Katherine jeden Moment damit rechnete, ins Kindbett gelegt zu werden, verließ Jesse das Haus und ging auf einen langen Spaziergang. Die Bentley-Farm lag in einem kleinen Tal, das vom Wine Creek bewässert war, und am Ufer jenes Bachs ging Jesse bis zum Ende seines Lands und weiter durch die Felder seiner Nachbarn. Wie er so ging, weitete sich das Tal und verengte sich wieder. Vor ihm lagen weite offene Felder und Wälder. Der Mond kam hinter Wolken hervor, und er erklomm einen niedrigen Hügel und setzte sich hin, um nachzudenken.
    Jesse dachte, dass ihm als dem wahren Diener Gottes
das gesamte Stück Land, das er durchschritten hatte, gehören müsste. Er dachte an seine toten Brüder und warf ihnen vor, nicht härter gearbeitet und mehr

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