Winesburg, Ohio (German Edition)
Erfolg. Als der Letzte der vier gefallen war, schickte er Jesse die Nachricht, er müsse nach Hause kommen.
Dann starb plötzlich die Mutter, die sich ein Jahr lang nicht wohlgefühlt hatte, worauf dem Vater vollends der Mut schwand. Er sprach davon, die Farm zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen. Den ganzen Tag lief er kopfschüttelnd und brummelnd umher. Die Feldarbeit wurde vernachlässigt, im Mais stand das Unkraut hoch. Der alte Tom nahm Männer in Dienst, doch er setzte sie nicht klug ein. Waren sie morgens auf die Felder gezogen, ging er in den Wald und ließ sich
auf einem Stamm nieder. Manchmal vergaß er abends, nach Hause zu gehen, dann musste eine der Töchter ihn suchen.
Als Jesse Bentley auf die Farm kam und die Sache in die Hand nahm, war er ein schmaler, empfindsam wirkender Mann von zweiundzwanzig Jahren. Mit achtzehn war er von zu Hause weg an eine Schule gegangen, um Gelehrter und schließlich Pfarrer der Presbyterianerkirche zu werden. Seine ganze Jugendzeit hindurch war er ein «wunderliches Schaf» gewesen, wie man das in unserem Land nannte, und mit seinen Brüdern nicht zurechtgekommen. In der ganzen Familie hatte ihn lediglich seine Mutter verstanden, und die war nun tot. Als er nach Hause kam, um die Farm zu übernehmen, die auf über siebenhundert Morgen 7 angewachsen war, lächelte jeder auf den Farmen im Umkreis und im nahe gelegenen Winesburg über die Vorstellung, dass er versuchte, die Arbeit zu machen, die von seinen vier kräftigen Brüdern geleistet worden war.
Zum Lächeln bestand wahrlich Anlass. Nach dem Verständnis seiner Zeit sah Jesse gar nicht wie ein Mann aus. Er war klein, sehr schmal und hatte einen fraulichen Körper, und ganz in der Tradition der jungen Pfarrer trug er einen schwarzen Rock und eine dünne schwarze Krawatte. Die Nachbarn amüsierten sich, als sie ihn nach den Jahren seiner Abwesenheit sahen, und noch mehr amüsierten sie sich, als sie die Frau sahen, die er in der Stadt geheiratet hatte.
Und tatsächlich ging Jesses Frau auch bald zugrunde. Das war womöglich Jesses Schuld. In den harten Jahren nach dem Bürgerkrieg war eine Farm im nördlichen
Ohio kein Ort für eine zarte Frau, und Katherine Bentley war zart. Jesse behandelte sie hart, wie er in jener Zeit alle um ihn herum behandelte. Sie versuchte, die gleiche Arbeit zu tun, die alle Frauen in der Nachbarschaft taten, und er ließ sie gewähren, ohne sich einzumischen. Sie half beim Melken und erledigte einen Teil der Hausarbeit; sie machte den Männern die Betten und bereitete ihnen ihr Essen. Ein Jahr lang arbeitete sie jeden Tag von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht, und als sie dann noch ein Kind geboren hatte, starb sie.
Was Jesse Bentley betraf – obwohl er ein zart gebauter Mann war, hatte er doch etwas in sich, was sich nicht so schnell umbringen ließ. Er hatte braune Locken und graue Augen, die zuweilen hart und stechend blickten, dann wieder schweifend und unstet. Er war nicht nur schlank, sondern auch noch klein von Wuchs. Sein Mund war wie der eines empfindsamen und sehr entschlossenen Kindes. Jesse Bentley war ein Fanatiker. Er war außerhalb seiner Zeit und seines Landstrichs geboren, und daran litt er und ließ andere leiden. Nie gelang es ihm, vom Leben das zu erhalten, was er wollte, und was er wollte, wusste er nicht. Binnen sehr kurzer Zeit nach seiner Rückkehr auf die Bentley-Farm hatte er es geschafft, dass alle ein wenig Angst vor ihm hatten, und seine Frau, die ihm so nahe hätte sein sollen, wie es seine Mutter gewesen war, hatte ebenfalls Angst. Nachdem er zwei Wochen zu Hause war, überschrieb ihm der alte Tom Bentley die gesamte Farm und zog sich in den Hintergrund zurück. Alle zogen sich zurück. Trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit hatte
Jesse ein Händchen, die Seelen seiner Leute zu beherrschen. In allem, was er tat und sagte, war er so ernst, dass niemand ihn verstand. Er sorgte dafür, dass jeder auf der Farm arbeitete wie nie zuvor, und dennoch lag in der Arbeit keine Freude. Lief die Sache gut, so lief sie gut für Jesse und niemals für die Leute, die von ihm abhängig waren. Wie tausend andere starke Männer, die hier in Amerika in diesen späteren Zeiten auf die Welt gekommen sind, war auch Jesse nur zur Hälfte stark. Er konnte andere beherrschen, nicht aber sich selbst. Eine Farm zu führen, wie sie noch nie geführt worden war, fiel ihm leicht. Als er aus Cleveland, wo er zur Schule gegangen war, nach Hause kam, schottete er sich von allen
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