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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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an ihrer Ankunft auf der Welt kein Wohlgefallen fand, war Louise von Kindheit an neurotisch, eine jener überreizten Frauen, die der Industrialismus in späteren Tagen in solch großer Zahl auf die Welt bringen sollte.
    In ihren ersten Jahren lebte sie auf der Bentley-Farm, ein stilles, launisches Kind, das mehr als alles andere auf der Welt Liebe wollte und nicht bekam. Mit fünfzehn zog sie nach Winesburg zur Familie von Albert Hardy, der ein Geschäft für den Verkauf von Buggys und Fuhrwagen hatte und dem städtischen Bildungsausschuss angehörte.
    Louise ging in die Stadt, um an der Highschool von Winesburg zu lernen, und bei den Hardys wohnte sie, weil Albert Hardy und ihr Vater befreundet waren.
    Hardy, der Fahrzeughändler von Winesburg, begeisterte sich wie Tausende anderer Männer seiner Zeit für das Thema Bildung. Er war seinen eigenen Weg
gegangen, ohne Gelehrsamkeit aus Büchern, doch er war überzeugt, dass, wäre er nur mit Büchern vertraut gewesen, für ihn alles besser gelaufen wäre. Mit jedem, der in sein Geschäft kam, sprach er darüber, und in seinem Haus trieb er seine Familie in den Wahnsinn, weil er unablässig darauf herumritt.
    Er hatte zwei Töchter und einen Sohn, John Hardy, und mehr als einmal drohten die Töchter, die Schule ganz zu verlassen. Aus Prinzip taten sie im Unterricht gerade genug, um einer Bestrafung zu entgehen. «Ich hasse Bücher, und ich hasse jeden, der Bücher mag», erklärte Harriet, die jüngere der beiden, voller Inbrunst.
    In Winesburg war Louise ebenso wenig glücklich wie auf der Farm. Jahrelang hatte sie von der Zeit geträumt, da sie in die Welt hinausgehen könnte, und betrachtete den Einzug ins Hardy’sche Haus als einen großen Schritt in Richtung Freiheit. Stets, wenn sie darüber nachdachte, hatte sie gemeint, in der Stadt müsse alles Heiterkeit und Leben sein und dass die Männer und Frauen dort glücklich und frei lebten, Freundschaft und Zuneigung gaben und nahmen, so wie man das Gefühl des Windes auf der Wange annimmt. Nach der Stille und Freudlosigkeit des Lebens im Hause Bentley träumte sie davon, einmal in eine Atmosphäre zu gelangen, die warm war und von Leben und Wirklichkeit pulsierte. Und im Hardy’schen Haus hätte Louise vielleicht etwas von dem, wonach sie dürstete, gefunden, hätte sie nicht, frisch in der Stadt, einen Fehler begangen.
    Louise handelte sich das Missfallen der beiden Hardy-Mädchen,
Mary und Harriet, ein, weil sie ihre Studien in der Schule mit Fleiß betrieb. Sie kam erst an dem Tag ins Haus, an dem die Schule beginnen sollte, und wusste nichts von deren Haltung gegenüber dieser Einrichtung. Sie war verzagt und schloss im ersten Monat keinerlei Bekanntschaften. Jeden Freitagnachmittag fuhr einer der Knechte der Farm nach Winesburg und holte sie fürs Wochenende ab, sodass sie den freien Samstag nicht bei den Städtern verbrachte. Da sie verlegen und einsam war, arbeitete sie ständig an ihren Aufgaben. Mary und Harriet hatten den Eindruck, dass sie versuchte, ihnen durch ihre Tüchtigkeit Ärger zu bereiten. In ihrem Eifer, einen guten Eindruck zu machen, wollte Louise jede Frage beantworten, welche die Lehrerin der Klasse stellte. Sie sprang auf und nieder, und ihre Augen blitzten. Wenn sie dann Fragen beantwortet hatte, die die anderen in der Klasse nicht wussten, lächelte sie glücklich. «Seht ihr, ich habe es für euch getan», schienen ihre Augen zu sagen. «Ihr braucht euch darum nicht zu sorgen. Ich werde alle Fragen beantworten. Solange ich da bin, wird es die ganze Klasse einfach haben.»
    Abends, nach dem Essen im Hardy’schen Haus, lobte Albert Hardy Louise. Eine der Lehrerinnen hatte in den höchsten Tönen von ihr gesprochen, und darüber freute er sich. «Nun, erneut ist es mir zu Ohren gekommen», begann er, schaute seine Töchter streng an und wandte sich dann lächelnd an Louise. «Wieder hat mir eine Lehrerin von der guten Arbeit erzählt, die Louise leistet. Jeder in Winesburg erzählt mir, wie klug sie ist. Ich schäme mich, dass man so nicht auch
über meine Mädchen spricht.» Der Händler erhob sich, schritt im Zimmer umher und zündete sich seine Abendzigarre an.
    Die beiden Mädchen sahen einander an und schüttelten matt den Kopf. Ob ihrer Gleichgültigkeit wurde der Vater zornig. «Ich sage euch, darüber solltet ihr beiden einmal nachdenken», rief er aus und blickte sie finster an. «Hier in Amerika wird es einen großen Wandel geben, und im Lernen liegt die einzige Hoffnung der

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