Winesburg, Ohio (German Edition)
der die Geschichte dessen kannte, was Person und Wesen Wash Williams’ hässlich hatte werden lassen. Einmal hatte er die Geschichte George Willard erzählt, und dass er die Geschichte erzählte, kam so:
George Willard machte eines Abends einen Spaziergang mit Belle Carpenter, einer Damenhutmacherin,
die in Mrs Kate McHughs Hutsalon arbeitete. Der junge Mann war in die Frau nicht verliebt, und diese hatte denn auch einen Verehrer, der als Barkeeper in Ed Griffiths Saloon arbeitete, doch als sie unter den Bäumen entlangspazierten, umarmten sie sich trotzdem mitunter. Die Nacht und beider Gedanken hatten etwas in ihnen geweckt. Als sie zur Main Street zurückkehrten, liefen sie an dem kleinen Rasenstück am Bahnhof vorbei, und auf dem lag unter einem Baum, offenbar schlafend, Wash Williams. Am folgenden Abend gingen der Telegraphist und George Willard zusammen spazieren. Sie gingen die Bahnlinie entlang und setzten sich auf einen Stapel modernder Schwellen neben dem Gleis. Und da erzählte der Telegraphist dem jungen Reporter die Geschichte seines Hasses.
Vielleicht ein Dutzend Mal hatten George Willard und der seltsame, unförmige Mann, der im Hotel seines Vaters wohnte, im Begriff gestanden zu reden. Der junge Mann blickte in das hässliche, verschlagene Gesicht, das im Speisesaal des Hotels um sich schaute, und verzehrte sich von Neugier. Etwas in dem starrenden Blick verriet ihm, dass der Mann, der anderen nichts, gleichwohl ihm etwas zu sagen hatte. Erwartungsvoll saß er an jenem Sommerabend auf dem Stapel Eisenbahnschwellen. Als der Telegraphist schwieg und es schien, als hätte er es sich anders überlegt, versuchte er, eine Unterhaltung zu beginnen. «Waren Sie jemals verheiratet, Mr Williams?», begann er. «Ich nehme es an, und Ihre Frau ist tot, ist es das?»
Wash Williams stieß in schneller Abfolge üble Flüche aus. «Ja, sie ist tot», stimmte er ihm zu. «Sie ist tot, wie
es alle Frauen sind. Sie ist eine lebende Tote, sie läuft vor den Augen der Männer herum und beschmutzt die Erde mit ihrer Existenz.» Der Mann starrte dem Jungen in die Augen und wurde puterrot vor Zorn. «Mach dir nur keine närrischen Vorstellungen», befahl er. «Meine Frau, die ist tot; ja, gewiss. Ich sage dir, alle Frauen sind tot, meine Mutter, deine Mutter, diese große dunkle Frau, die in dem Hutsalon arbeitet, mit der ich dich gestern gesehen habe – sie alle sind tot. Ich sage dir, an ihnen ist was faul. Gewiss, ich war verheiratet. Meine Frau war schon tot, bevor sie mich heiratete, sie war etwas Schmutziges, was aus einer noch schmutzigeren Frau gekommen ist. Sie wurde geschickt, um mir mein Leben unerträglich zu machen. Ich war ein Dummkopf, weißt du, so wie du jetzt einer bist, also habe ich diese Frau geheiratet. Es wäre schön, wenn die Männer die Frauen ein bisschen besser verstünden. Sie sind hergeschickt worden, um die Männer daran zu hindern, die Welt zu etwas Lohnendem zu machen. Es ist eine Tücke der Natur. Bäh! Das sind kriechende, krabbelnde, sich windende Wesen, die mit ihren weichen Händen und ihren blauen Augen. Der Anblick von Frauen macht mich krank. Ich weiß nicht, warum ich nicht jede Frau, die ich sehe, umbringe.»
Halb furchtsam und dennoch fasziniert von dem Licht, das in den Augen des scheußlichen alten Mannes loderte, hörte George Willard zu, brennend vor Neugier. Es wurde allmählich dunkel, und er beugte sich vor, um das Gesicht des Mannes zu sehen, der da sprach. Als er in dem zunehmenden Dunkel das
puterrote, aufgedunsene Gesicht und die lodernden Augen nicht mehr sehen konnte, überkam ihn eine merkwürdige Vorstellung. Wash Williams sprach in einem leisen, gleichmäßigen Ton, der seine Worte noch schrecklicher erscheinen ließ. In dem Dunkel ertappte sich der junge Reporter bei der Vorstellung, er säße auf den Schwellen neben einem reizenden jungen Mann mit schwarzen Haaren und schwarz leuchtenden Augen. In der Stimme Wash Williams’ des Scheußlichen, der die Geschichte seines Hasses erzählte, lag fast etwas Schönes.
Der Telegraphist von Winesburg, der da im Dunkeln auf den Eisenbahnschwellen saß, war zum Dichter geworden. Hass hatte ihn auf diese Höhen emporgehoben.«Ich erzähle dir diese Geschichte, weil ich gesehen habe, wie du diese Belle Carpenter auf den Mund geküsst hast», sagte er. «Was mir widerfahren ist, könnte auch dir widerfahren. Ich möchte, dass du dich vorsiehst. Möglicherweise hast du schon Träume im Kopf. Ich möchte sie
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