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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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    Als Will Hurley, ein Mann mittleren Alters, der Verkäufer in einem Drugstore war und ebenfalls der Kirche angehörte, ihr anbot, sie nach Hause zu begleiten, protestierte sie nicht. «Natürlich lasse ich nicht zu, dass er es sich zur Gewohnheit macht, mit mir zusammen zu sein, aber wenn er mich gelegentlich einmal besucht, ist es bestimmt nicht schlimm», sagte sie bei sich, weiterhin entschieden in ihrer Treue zu Ned Currie.
    Ohne sich bewusst zu werden, was geschah, versuchte Alice, anfangs schwach, jedoch mit wachsender Entschiedenheit, sich ein neues Leben aufzubauen. Neben dem Drugstore-Verkäufer ging sie schweigend her, aber manchmal, wenn sie im Dunkel gleichmütig
herumliefen, streckte sie die Hand aus und berührte leicht die Falten seines Mantels. Hatte er sie vor dem Tor des Hauses ihrer Mutter verlassen, ging sie nicht hinein, sondern blieb noch einen Augenblick an der Tür stehen. Sie wollte den Drugstore-Verkäufer rufen, ihn bitten, sich im Dunkeln zu ihr auf die Veranda vor dem Haus zu setzen, fürchtete aber, er würde es nicht verstehen. «Nicht ihn will ich», sagte sie bei sich, «ich möchte nur nicht gern so viel allein sein. Wenn ich nicht aufpasse, bin ich es bald nicht mehr gewohnt, unter Leuten zu sein.»
     
    Im Frühherbst ihres siebenundzwanzigsten Lebensjahrs wurde Alice von einer leidenschaftlichen Ruhelosigkeit gepackt. Sie konnte die Gesellschaft des Drugstore-Verkäufers nicht mehr ertragen, und als er am Abend auf einen Spaziergang zu ihr kam, schickte sie ihn weg. Ihre Gedanken rasten, und als sie, vom langen Stehen hinterm Ladentisch im Geschäft müde, nach Haus ging und ins Bett kroch, konnte sie nicht schlafen. Mit starrem Blick schaute sie ins Dunkel. Ihre Phantasie tollte im Zimmer umher gleich einem Kind, das aus einem langen Schlaf erwacht war. Tief in ihr war etwas, das sich von Phantasien nicht täuschen ließ und das vom Leben eine eindeutige Antwort verlangte.
    Alice nahm ein Kissen in die Arme und hielt es fest an die Brust gedrückt. Dann stand sie auf und arrangierte die Decke so, dass es im Dunkeln aussah, als liege zwischen den Laken eine Gestalt, und am Bett kniend streichelte sie sie und flüsterte immer wieder Worte gleich einem Refrain: «Warum geschieht denn
nichts? Warum bin ich hier allein?», murmelte sie. Obwohl sie manchmal noch an Ned Currie dachte, war sie nicht mehr von ihm abhängig. Ihr Begehren war unbestimmt geworden. Sie wollte Ned Currie nicht und auch keinen anderen Mann. Sie wollte geliebt werden, etwas haben, was auf den Ruf antwortete, der in ihr immer lauter wurde.
    Und dann erlebte Alice eines Abends, es regnete, ein Abenteuer. Es ängstigte und verstörte sie. Sie war um neun vom Laden nach Hause gekommen und fand ihr Haus leer vor. Bush Milton war in die Stadt gegangen und ihre Mutter zu einer Nachbarin. Alice ging nach oben auf ihr Zimmer und zog sich im Dunkeln aus. Einen Augenblick lang stand sie am Fenster, wo der Regen gegen die Scheibe prasselte, und dann ergriff sie ein seltsames Verlangen. Ohne zu überlegen, was sie tat, rannte sie durch das dunkle Haus nach unten und hinaus in den Regen. Als sie dann auf dem kleinen Rasenstück vor dem Haus stand und den kalten Regen auf ihrem Körper fühlte, überkam sie das wahnsinnige Verlangen, nackt durch die Straßen zu laufen.
    Sie glaubte, der Regen könne eine schöpferische, wunderbare Wirkung auf ihren Körper haben. Seit Jahren hatte sie keine solche jugendliche Kühnheit in sich gespürt. Sie wollte springen und rennen, schreien, einen anderen einsamen Menschen finden und ihn umarmen. Auf dem Backsteingehweg vor dem Haus torkelte ein Mann heimwärts. Alice rannte los. Eine wilde, verzweifelte Stimmung ergriff sie. «Was schert es mich, wer das ist. Er ist allein, und ich gehe zu ihm hin», dachte sie, und dann rief sie leise, ohne
das mögliche Ergebnis ihres Wahnsinns zu bedenken: «Warten Sie! Gehen Sie nicht weg! Wer Sie auch sind, Sie müssen warten.»
    Der Mann auf dem Gehsteig blieb stehen und horchte. Er war alt und auch ein wenig taub. Er legte die Hand an den Mund und schrie: «Was? Was war das?»
    Alice fiel auf die Erde und lag zitternd da. Bei dem Gedanken daran, was sie getan hatte, ängstigte sie sich so sehr, dass sie, als der Mann seines Weges gegangen war, nicht aufzustehen wagte, sondern auf Händen und Knien durchs Gras zum Haus zurückkroch. Als sie auf ihrem Zimmer war, verriegelte sie die Tür und zog ihre Kommode davor. Sie bebte am ganzen

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