Winesburg, Ohio (German Edition)
Gehsteigen. Leute gingen lachend und redend umher. Der junge Reporter fühlte sich krank und schwach. In seiner Phantasie wurde auch er alt und unförmig. «Ich habe die Mutter nicht getötet», sagte Wash Williams und schaute die Straße auf und ab. «Ich versetzte ihr einen Hieb mit einem Stuhl, und dann kamen die Nachbarn herein und nahmen ihn mir weg. Sie kreischte ja so laut, weißt du. Jetzt habe ich nie mehr die Gelegenheit, sie zu töten. Einen Monat, nachdem das geschah, starb sie am Fieber.»
DER DENKER
Das Haus, in dem Seth Richmond aus Winesburg mit seiner Mutter lebte, war einst das Prunkstück der Stadt gewesen, doch als der junge Seth dort wohnte, war seine Pracht schon etwas verblasst. Das riesige Backsteinhaus, das der Bankier White in der Buckeye Street gebaut hatte, überschattete es. Das Richmond’sche Haus lag in einer kleinen Senke ganz am Ende der Main Street. Farmer, die von Süden über eine staubige Straße in die Stadt kamen, passierten einen Hain aus Walnussbäumen, folgten dem Saum des Festplatzes mit seinem hohen, von Plakaten beklebten Zaun und ließen ihre Pferde durch die Senke, am Richmond’schen Haus vorbei, in die Stadt traben. Da viel von dem Land nördlich und südlich von Winesburg dem Anbau von Obst und Beeren gewidmet war, sah Seth ganze Wagenladungen mit Beerenpflückern – Jungen, Mädchen, Frauen – morgens auf die Felder fahren und abends staubbedeckt zurückkehren. Die plappernde Menge mit ihren derben Witzen, die von Wagen zu Wagen schallten, ärgerte ihn manchmal sehr. Er bedauerte, nicht ebenso ausgelassen lachen, bedeutungslose Witze schreien und in dem endlosen Strom reger, kichernder Geschäftigkeit, die die Straße auf und ab lief, etwas darstellen zu können.
Das Richmond’sche Haus war aus Kalkstein erbaut und, auch wenn im Ort geredet wurde, es sei heruntergekommen, in Wahrheit mit jedem Jahr schöner geworden. Schon hatte die Zeit begonnen, den Stein zu färben, seiner Oberfläche eine goldene Fülle zu verleihen und am Abend oder an dunklen Tagen die beschatteten Stellen unter den Dachvorsprüngen mit wabernden Flecken aus Braun- und Schwarztönen zu versehen.
Das Haus war von Seths Großvater erbaut worden, einem Steinhauer, und war zusammen mit den Steinbrüchen am Eriesee achtzehn Meilen weiter nördlich seinem Sohn, Clarence Richmond, Seths Vater, vererbt worden. Clarence Richmond, ein stiller, leidenschaftlicher, von seinen Nachbarn außerordentlich bewunderter Mann, war in einer Schießerei mit einem Zeitungsredakteur aus Toledo, Ohio, zu Tode gekommen. Bei dem Kampf ging es um die Veröffentlichung von Clarence Richmonds Namen in Verbindung mit dem einer Lehrerin, und da der Tote den Streit begonnen hatte, indem er auf den Redakteur schoss, blieben die Bemühungen, den Mörder zu bestrafen, ohne Erfolg. Nach dem Tod des Steinhauers war ans Licht gekommen, dass ein Großteil des ihm hinterlassenen Geldes mit Spekulationen und unter dem Einfluss von Freunden getätigten unsicheren Investitionen verschleudert worden war.
Mit einem nur geringen Einkommen hatte Virginia Richmond sich in ein zurückgezogenes Leben in der Kleinstadt und die Erziehung ihres Sohnes bequemt. Obwohl vom Tod des Ehemannes und Vaters tief berührt,
glaubte sie doch keineswegs die Geschichten, die nach seinem Tod über ihn kursierten. Für sie war der empfindsame, jungenhafte Mann, den alle instinktiv geliebt hatten, nur ein bedauernswertes Wesen, das fürs Alltagsleben zu fein gewesen war. «Du wirst einmal alle möglichen Geschichten hören, aber du sollst nicht glauben, was du hörst», sagte sie zu ihrem Sohn. «Er war ein guter Mann, voller Zärtlichkeit für jeden, und hätte nicht versuchen sollen, Geschäftsmann zu sein. Gleich, was ich alles für deine Zukunft planen und erträumen sollte, ich könnte mir nichts Besseres für dich vorstellen, als dass du dich als ein ebenso guter Mann wie dein Vater erweist.»
Mehrere Jahre nach dem Tod ihres Mannes machte sich Virginia Richmond, beunruhigt ob der wachsenden Forderungen an ihr Einkommen, daran, es zu vermehren. Sie hatte Stenographie gelernt und durch den Einfluss der Freunde ihres Mannes eine Anstellung als Gerichtsstenographin in der Bezirkshauptstadt bekommen. Dorthin fuhr sie während der Gerichtsperiode jeden Morgen mit dem Zug, und wenn keine Verhandlungen stattfanden, verbrachte sie den Tag mit der Arbeit an den Rosensträuchern in ihrem Garten. Sie war eine Frau von großer, aufrechter Gestalt, mit
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