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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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schlichtem Gesicht und einer dichten Masse braunen Haars.
    In der Beziehung zwischen Seth Richmond und seiner Mutter gab es etwas, was seinen gesamten Umgang mit Männern schon im Alter von achtzehn Jahren geprägt hatte. Ein fast schon ungesunder Respekt vor dem jungen Mann ließ die Mutter in seiner Gegenwart
zumeist schweigen. Sprach sie doch einmal in scharfem Ton mit ihm, so brauchte er ihr nur unverwandt in die Augen zu schauen, um darin den verwirrten Blick heraufdämmern zu sehen, der ihm auch schon in den Augen anderer aufgefallen war.
    Die Wahrheit war, dass der Sohn mit bemerkenswerter Klarheit dachte und die Mutter nicht. Sie erwartete von jedermann gewisse konventionelle Reaktionen auf das Leben. Der Sohn war ein Junge, man schalt ihn, und er zitterte und blickte zu Boden. Hatte man ihn genug gescholten, weinte er, und alles war verziehen. Hatte er sich ausgeweint und war zu Bett gegangen, schlich man zu ihm auf sein Zimmer und küsste ihn.
    Virginia Richmond verstand nicht, warum ihr Sohn das alles nicht machte. Selbst nach dem schärfsten Tadel zitterte er nicht und blickte auch nicht zu Boden, sondern blickte sie vielmehr unverwandt an, wovon ihr unbehagliche Zweifel kamen. Und zu ihm ins Zimmer schleichen – nach Seths fünfzehntem Lebensjahr hätte sie sich fast gefürchtet, etwas Derartiges zu tun.
    Einmal, er war ein Junge von sechzehn Jahren, lief Seth in Begleitung zweier weiterer Jungen von zu Hause weg. Die drei kletterten durch die offene Tür eines leeren Güterwaggons und fuhren rund vierzig Meilen in eine Stadt, in der ein Volksfest stattfand. Einer der Jungen hatte eine Flasche mit einer Mischung aus Whiskey und Brombeerwein dabei, und so saßen die drei, die Beine baumelten heraus, in dem Waggon und tranken die Flasche. Seths Gefährten sangen und winkten in den Bahnhöfen, durch die der Zug fuhr, Müßiggängern zu. Sie planten Überfälle auf die Körbe
von Bauern, die mit ihren Familien zum Volksfest gekommen waren. «Wir werden wie die Könige leben und keinen Penny für das Volksfest und das Pferderennen ausgeben müssen», prahlten sie.
    Nach Seths Verschwinden lief Virginia Richmond zu Hause voller vager Sorgen im Zimmer auf und ab. Obwohl sie am folgenden Tag mittels einer Nachfrage beim Marshall in Erfahrung brachte, zu welchem Abenteuer die Jungen aufgebrochen waren, konnte sie sich doch nicht beruhigen. Die ganze Nacht hindurch lag sie wach, hörte die Uhr ticken und sagte sich, dass Seth wie sein Vater einen jähen und gewaltsamen Tod finden werde. So entschlossen war sie, den Jungen diesmal das Gewicht ihres Zorns spüren zu lassen, dass sie, obwohl sie nicht zuließ, dass der Marshall sich mit seinem Abenteuer befasste, Stift und Papier hervorholte und eine Reihe scharfer, schmerzhafter Vorwürfe aufschrieb, die sie über ihm auszuschütten gedachte. Die Vorwürfe prägte sie sich im Gedächtnis ein, indem sie im Garten umherging und sie laut hersagte wie eine Schauspielerin, die ihre Rolle memoriert.
    Und als Seth am Ende der Woche ein wenig müde und mit Kohlenstaub in den Ohren und um die Augen heimkehrte, sah sie sich erneut außerstande, ihn zu tadeln. Er kam ins Haus, hängte seine Mütze an einen Nagel bei der Küchentür und schaute sie unverwandt an. «Ich wollte schon eine Stunde, nachdem wir aufgebrochen waren, umkehren», erklärte er. «Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wusste, du würdest dir Sorgen machen, aber ebenso wusste ich, dass ich mich, wäre ich nicht gegangen, meiner geschämt hätte. Ich
habe die Sache zu meinem eigenen Nutzen gemacht. Es war ungemütlich, auf nassem Stroh zu schlafen, und dann kamen noch zwei betrunkene Neger herein und schliefen bei uns. Als ich aus dem Wagen eines Farmers einen Lunchkorb stahl, musste ich doch an seine Kinder denken, die nun den ganzen Tag ohne Essen wären. Ich hatte das ganze Unternehmen so satt, aber ich war entschlossen, durchzuhalten, bis die anderen Jungen bereit waren umzukehren.»
    «Ich bin froh, dass du durchgehalten hast», entgegnete seine Mutter halb ärgerlich und küsste ihn auf die Stirn; darauf gab sie vor, Hausarbeiten erledigen zu müssen.
    An einem Abend im Sommer ging Seth Richmond ins «New Willard House», um seinen Freund George Willard zu besuchen. Am Nachmittag hatte es geregnet, doch als er über die Main Street lief, hatte der Himmel schon teilweise aufgeklart, und ein goldener Schein erhellte den Westen. Er bog um eine Ecke, betrat das Hotel und stieg die Treppe zum

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