Winesburg, Ohio (German Edition)
verbrachte Stunden damit, Unmögliches zu träumen, nämlich genügend Geld gespart zu haben, sodass die Zinsen sie selbst wie auch ihren zukünftigen Mann ernähren würden.
«Ned ist immer gern gereist», dachte sie. «Ich werde ihm die Gelegenheit verschaffen. Eines Tages, wenn wir verheiratet sind und ich seines wie auch mein Geld sparen kann, werden wir reich sein. Dann können wir durch die ganze Welt reisen.»
Im Kurzwarenladen wurden die Wochen zu Monaten und die Monate zu Jahren, und Alice wartete auf die Rückkehr ihres Geliebten und träumte davon. Ihr Arbeitgeber, ein grauer alter Mann mit Gebiss und einem dünnen grauen Schnurrbart, der ihm über den Mund hing, neigte nicht zu Gesprächen, und manchmal, wenn es regnete, und im Winter, wenn ein Sturm in der Main Street tobte, vergingen lange Stunden, in denen keine Kundschaft kam. Alice ordnete die Waren immer wieder neu. Sie stand vorn am Fenster, von wo aus sie auf die verlassene Straße blicken konnte, und dachte an die Abende, an denen sie mit Ned Currie spazieren gegangen war, und daran, was er gesagt hatte. «Nun werden wir zueinanderhalten müssen.» Die Worte hallten im Kopf der reifenden Frau wider. Tränen traten ihr in die Augen. Manchmal, wenn ihr Arbeitgeber ausgegangen und sie allein im Geschäft war, legte sie den Kopf auf den Tresen und weinte. «Ach, Ned, ich warte», flüsterte sie immer aufs Neue, und die schleichende Angst, er werde nie mehr wiederkommen, wurde in ihr mit den Jahren immer stärker.
Im Frühjahr, wenn der Regen abgezogen ist und bevor die heißen Sommertage kommen, ist das Land um Winesburg herrlich. Die Stadt liegt inmitten offener Felder, und jenseits der Felder sind freundliche Flecken Wald. In den Waldgebieten gibt es zahlreiche abgeschiedene Nischen, stille Plätzchen, wo sich Liebende am Sonntagnachmittag niederlassen. Durch die Bäume schauen sie auf die Felder und sehen die Farmer bei der Arbeit an den Scheunen oder auch Leute, die auf den Straßen hin- und herfahren. In der Stadt läuten
die Glocken, und gelegentlich rollt in der Ferne, einem Spielzeug gleich, ein Zug vorbei.
Noch mehrere Jahre, nachdem Ned Currie fortgegangen war, ging Alice sonntags nicht mit den anderen jungen Leuten in den Wald, doch eines Tages, als die Einsamkeit ihr unerträglich schien, da war er schon zwei oder drei Jahre weg, legte sie ihr bestes Kleid an und machte sich auf. Sie fand ein geschütztes Plätzchen, von dem aus sie die Stadt und einen langen Streifen Feld sehen konnte, und da setzte sie sich hin. Die Furcht vor Alter und Bedeutungslosigkeit ergriff Besitz von ihr. Sie konnte nicht stillsitzen und erhob sich. Als sie dastand und auf das Land blickte, lenkte etwas, vielleicht die Vorstellung des nie endenden Lebens, wie es im Fluss der Jahreszeiten zum Ausdruck kommt, ihre Gedanken auf die vergehenden Jahre. Mit einem angstvollen Schaudern erkannte sie, dass die Schönheit und Frische der Jugend für sie Vergangenheit waren. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, betrogen worden zu sein. Sie gab die Schuld nicht Ned Currie und wusste auch nicht, wem sonst sie sie geben sollte. Traurigkeit überkam sie. Sie fiel auf die Knie, sie wollte beten, doch statt eines Gebets kamen ihr Worte des Protests über die Lippen. «Es kommt nicht zu mir. Ich werde das Glück nie finden. Warum belüge ich mich nur?», rief sie, und dabei, bei ihrem ersten kühnen Versuch, der Furcht, die Teil ihres Alltagslebens geworden war, ins Auge zu sehen, überkam sie eine merkwürdige Erleichterung.
In dem Jahr, als Alice Hindman fünfundzwanzig wurde, geschahen zwei Dinge, die die trübselige Ereignislosigkeit
ihres Lebens störten. Ihre Mutter heiratete Bush Milton, den Kutschenmaler von Winesburg, und sie selbst wurde Mitglied der Winesburger Methodistenkirche. Alice trat der Kirche bei, weil sie sich vor der Einsamkeit ihres Platzes im Leben fürchtete. Die zweite Ehe ihrer Mutter hatte ihre Isolation noch verstärkt. «Ich werde alt und schrullig. Wenn Ned kommt, wird er mich nicht wollen. In der Stadt, in der er lebt, sind die Männer ewig jung. Dort ist so viel los, dass sie gar nicht die Zeit haben, alt zu werden», sagte sie mit einem grimmigen kleinen Lächeln bei sich und machte sich zielstrebig daran, Bekanntschaften zu schließen. Jeden Donnerstagabend, wenn das Geschäft geschlossen hatte, ging sie zur Betstunde im Souterrain der Kirche, und sonntagabends wohnte sie einem Treffen einer Organisation mit Namen «Epworth League» 11
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