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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Körper, als fröstelte sie, und ihr zitterten die Hände, sodass sie Schwierigkeiten hatte, in ihr Nachtgewand zu schlüpfen. Im Bett dann vergrub sie das Gesicht im Kissen und weinte bitterlich. «Was ist nur los mit mir? Wenn ich nicht aufpasse, mache ich noch etwas Schreckliches», dachte sie, dann wandte sie das Gesicht zur Wand und zwang sich, tapfer der Tatsache ins Auge zu sehen, dass gewiss viele allein leben und sterben, auch in Winesburg.

EHRBARKEIT
    Wenn Sie in Städten gelebt haben, dann haben Sie vielleicht auch an einem Nachmittag im Sommer bei einem Spaziergang durch den Park einen riesenhaften, grotesken Affen in einem Winkel seines Eisenkäfigs blinzeln sehen, ein Wesen mit hässlicher, hängender, unbehaarter Haut unter den Augen und einem leuchtend purpurroten Unterleib. Dieser Affe ist ein wahres Monstrum. In der Perfektion seiner Hässlichkeit hat er eine Art pervertierte Schönheit erlangt. Kinder, die vor dem Käfig stehen bleiben, sind fasziniert, Männer wenden sich voller Abscheu ab und Frauen verharren einen Augenblick und versuchen vielleicht sich zu erinnern, welchem ihrer männlichen Bekannten das Vieh auf entfernte Weise ähnlich sehen könnte.
    Wären Sie in den frühen Jahren Ihres Lebens Bürger des Städtchens Winesburg, Ohio, gewesen, dann hätte Ihnen das Tier in seinem Käfig kein Rätsel aufgegeben. «Der sieht aus wie Wash Williams», hätten Sie gesagt. «Wie es da in der Ecke hockt, sieht das Tier aus wie der alte Wash, wenn er an einem Sommerabend im Gras vor dem Bahnhof sitzt, nachdem er sein Büro abgeschlossen hat.»
    Wash Williams, der Telegraphist von Winesburg, war das hässlichste Wesen in der ganzen Stadt. Sein Bauchumfang
war beträchtlich, sein Hals dünn, seine Beine schwach. Er war schmutzig. Alles an ihm war unsauber. Selbst das Weiße seiner Augen wirkte befleckt.
    Ich bin zu schnell. Nicht alles an Wash war unsauber. Auf seine Hände achtete er. Seine Finger waren dick, doch die Hand, die im Telegraphenamt auf dem Tisch neben dem Gerät lag, hatte etwas Empfindsames und Wohlgeformtes. In seiner Jugend galt Wash Williams als der beste Telegraphist des Staates, und trotz seiner Versetzung in das unbedeutende Amt von Winesburg war er stolz auf seine Fähigkeiten.
    Wash Williams pflegte keinen Umgang mit den Männern der Stadt, in der er lebte. «Mit denen habe ich nichts zu schaffen», sagte er und schaute mit trüben Augen nach den Männern, die auf dem Bahnsteig am Telegraphenamt vorbeigingen. Abends ging er dann die Main Street entlang in Ed Griffiths Saloon, und nachdem er unglaubliche Mengen Bier getrunken hatte, wankte er zu seinem Zimmer im «New Willard House» zur Nachtruhe in sein Bett.
    Wash Williams war ein mutiger Mann. Ihm war etwas widerfahren, was ihn das Leben fortan hassen ließ, und er hasste es aus ganzem Herzen, mit der Hingabe des Dichters. Vor allem aber hasste er Frauen. «Luder» nannte er sie. Seine Haltung Männern gegenüber war etwas anders. Er bedauerte sie. «Lässt nicht jeder Mann zu, dass sein Leben von irgendeinem Luder geleitet wird?», fragte er.
    In Winesburg beachtete niemand Wash Williams und dessen Hass auf seine Mitmenschen. Einmal beschwerte sich Mrs White, die Frau des Bankiers, bei
der Telegraphengesellschaft, das Amt in Winesburg sei schmutzig und rieche abscheulich, doch ihre Beschwerde führte zu nichts. Hier und da gab es einen, der den Telegraphisten respektierte. Instinktiv empfand der Mann einen schwelenden Groll gegen etwas, dem zu grollen er nicht den Mut hatte. Ging Wash durch die Straßen, erwies so einer ihm instinktiv Ehre, lüftete vor ihm den Hut oder verbeugte sich. Zu denen gehörte auch der Inspektor, der die Oberaufsicht über die Telegraphisten an der Bahnlinie hatte, die durch Winesburg führte. Er hatte Wash in das unbedeutende Amt in Winesburg gesteckt, um seine Entlassung zu umgehen, und er hatte auch vor, ihn dort zu belassen. Als er das Beschwerdeschreiben der Bankiersfrau erhielt, zerriss er es und lachte unangenehm. Aus irgendeinem Grund dachte er, als er den Brief zerriss, an seine eigene Frau.
    Wash Williams hatte einmal eine Frau gehabt. Als er noch ein junger Mann war, heiratete er eine Frau in Dayton, Ohio. Die Frau war groß und schlank und hatte blaue Augen und gelbes Haar. Wash war ebenfalls ein ansehnlicher junger Mann. Er liebte die Frau mit einer Liebe, die so verzehrend war wie später sein Hass, den er für alle Frauen empfand.
    In ganz Winesburg gab es nur einen Menschen,

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