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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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und dorthin, und niemand kommandiert einen herum. Auch wenn man in Indien oder in der Südsee auf einem Boot ist, muss man einfach nur schreiben, weiter nichts. Warte nur, bis ich mir einen Namen gemacht habe, dann wirst du sehen, wie viel Spaß ich habe.»
    In George Willards Zimmer, wo ein Fenster auf eine Gasse hinausging und ein anderes über die Gleise auf Biff Carters Imbissstube gegenüber dem Bahnhof, setzte sich Seth Richmond auf einen Stuhl und blickte zu Boden. George Willard, der eine Stunde lang müßig mit einem Bleistift gespielt hatte, begrüßte ihn überschwänglich.«Ich versuche, eine Liebesgeschichte zu schreiben», erklärte er mit einem nervösen Lachen. Er zündete sich eine Pfeife an und ging im Zimmer auf und ab. «Ich weiß, was ich tun werde. Ich werde mich verlieben. Ich habe hier gesessen und darüber nachgedacht, und ich werde es tun.»
    Wie verlegen durch seine Erklärung, trat George an ein Fenster und lehnte sich, seinem Freund den Rücken zukehrend, hinaus. «Ich weiß auch schon, in wen ich mich verlieben werde», erklärte er bestimmt. «In Helen White. Sie ist das einzige Mädchen der Stadt, das einigermaßen etwas ‹hermacht›.»
    Von einer neuen Idee erfüllt, wandte sich der junge Willard um und ging auf seinen Besucher zu. «Sieh mal», sagte er. «Du kennst Helen White besser als ich. Sag ihr doch bitte, was ich eben gesagt habe. Du redest einfach mit ihr und sagst ihr, dass ich mich in sie verliebt habe. Hör dir an, was sie dazu sagt. Sieh dir an, wie sie es aufnimmt, dann komm her und erzähl’s mir.»
    Seth Richmond stand auf und ging zur Tür. Die Worte seines Gefährten verärgerten ihn über alle Maßen. «Dann auf Wiedersehen», sagte er knapp.
    George war verblüfft. Er lief zu ihm und versuchte in dem Dunkel, Seths Miene zu erkennen. «Was ist los? Was willst du tun? Bleib hier, dann reden wir», drängte er.
    Eine Welle des Grolls gegen seinen Freund, gegen die Männer der Stadt, die, so dachte er, ständig über nichts redeten, vor allem aber gegen seine eigene Gewohnheit zu schweigen brachte Seth fast zur Verzweiflung. «Ach, sprich doch selbst mit ihr», entfuhr es ihm, dann trat er rasch durch die Tür und knallte sie seinem Freund vor der Nase zu. «Ich gehe Helen White suchen und spreche mit ihr, aber nicht über ihn», murmelte er.
    Zornig brummelnd ging Seth die Treppe hinunter und zur vorderen Tür des Hotels hinaus. Er überquerte
eine staubige Straße, stieg über ein niedriges Eisengeländer und setzte sich vor dem Bahnhof ins Gras. George Willard hielt er für einen ausgemachten Dummkopf, und er wünschte, er hätte es ihm deutlicher gesagt. Obwohl seine Bekanntschaft mit Helen White, der Bankierstochter, von außen gesehen nur oberflächlich war, weilten seine Gedanken doch häufig bei ihr, und er spürte, dass sie für ihn selbst etwas Eigenes und Persönliches war. «Dieser umtriebige Dummkopf mit seinen Liebesgeschichten», brummelte er und schaute über die Schulter zurück in Richtung von George Willards Zimmer, «warum wird er seines ewigen Geredes nie müde.»
    In Winesburg war die Zeit der Beerenernte gekommen, und auf dem Bahnsteig luden Männer und Jungen die Kisten mit den roten, duftenden Beeren in zwei Güterwaggons, die auf dem Abstellgleis standen. Am Himmel hing ein Junimond und keine Straßenlampe brannte, obwohl im Westen ein Sturm drohte. Im matten Licht waren die Gestalten der Männer, die auf dem Lastwagen standen und die Kisten durch die Türen der Waggons warfen, nur schwach erkennbar. Auf dem Eisengeländer, das die Grünfläche vor dem Bahnhof schützte, saßen weitere Männer. Pfeifen wurden entzündet. Dorfwitze schwirrten umher. In der Ferne heulte ein Zug, worauf die Männer, die die Kisten in die Waggons luden, mit neuerlicher Kraft arbeiteten.
    Seth erhob sich vom Gras und ging schweigend an den Männern auf dem Geländer vorbei zur Main Street. Er war zu einem Entschluss gelangt. «Ich verschwinde
von hier», sagte er bei sich. «Was soll ich hier? Ich gehe in irgendeine Stadt und arbeite dort. Morgen erzähle ich Mutter davon.»
    Seth Richmond ging langsam die Main Street entlang, vorbei an Wackers Zigarrenladen und am Rathaus, und bog in die Buckeye Street ein. Ihn bedrückte der Gedanke, dass er nicht Teil des Lebens seiner eigenen Stadt war, doch hielt sich die Trübnis in Grenzen, da er sich nicht im Unrecht sah. Im dichten Schatten eines großen Baums vor Doktor Wellings Haus blieb er stehen und betrachtete

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