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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Zimmer seines Freundes hinauf. Im Hotelbüro waren der Besitzer und zwei Handelsvertreter in einer politischen Diskussion begriffen.
    Auf der Treppe blieb Seth stehen und horchte auf die Stimmen der Männer unten. Sie waren erregt und redeten schnell. Tom Willard beschimpfte die Vertreter. «Ich bin Demokrat, aber Ihr Gerede macht mich krank», sagte er. «Sie verstehen McKinley nicht. McKinley und Mark Hanna sind befreundet. 12 Vielleicht geht das ja nicht in Ihren Kopf. Wenn jemand Ihnen sagt, dass eine Freundschaft tiefer, größer und lohnender sein kann als
Dollar und Cent oder sogar mehr wert als die Staatspolitik, dann kichern und lachen Sie.»
    Der Wirt wurde von einem der Gäste unterbrochen, einem großen Mann mit grauem Schnurrbart, der bei einem Lebensmittelgroßhandel arbeitete. «Glauben Sie denn, dass ich all die Jahre in Cleveland gelebt habe und nicht weiß, wer Mark Hanna ist?», fragte er. «Sie reden Unsinn. Hanna ist hinter Geld her und sonst nichts. Dieser McKinley ist doch bloß sein Werkzeug. Er hat McKinley übertölpelt, vergessen Sie das nicht.»
    Der junge Mann hörte dem Rest des Disputs nicht mehr zu, sondern ging die Treppe hinauf in den kleinen dunklen Flur. Etwas an den Stimmen der Männer, die da im Hotelbüro redeten, setzte bei ihm eine Kette von Gedanken in Bewegung. Er war einsam und hatte schon geglaubt, dass Einsamkeit ein Teil seines Wesens sei und etwas, was ihm immer erhalten bleiben werde. Er bog in einen Seitenflur und trat ans Fenster, das auf eine Gasse hinausging. Hinten an seinem Laden stand Abner Groff, der Stadtbäcker. Seine kleinen, blutunterlaufenen Augen blickten die Gasse auf und ab. In seinem Laden rief jemand nach dem Bäcker, der tat, als hörte er es nicht. Der Bäcker hielt eine leere Milchflasche in der Hand, und in seinen Augen lag ein zorniger, verdrossener Blick.
    In Winesburg galt Seth Richmond als der «Tiefsinnige».«Er ist wie sein Vater», sagten die Männer, wenn er durch die Straßen ging. «Irgendwann einmal wird er ausbrechen. Wartet’s nur ab.»
    Das Gerede in der Stadt und der Respekt, mit dem Männer und Jungen ihn instinktiv grüßten, so wie alle
Männer stille Leute grüßen, hatte Seth Richmonds Einstellung zum Leben und sich selbst gegenüber geprägt. Wie die meisten Jungen war er tiefsinniger, als Jungen gemeinhin zugestanden wird, dennoch war er nicht das, wofür die Männer der Stadt und selbst seine Mutter ihn hielten. Hinter seinem gewohnheitsmäßigen Schweigen lag keine besondere Absicht, auch hatte er für sich keinen bestimmten Lebensplan. Waren die Jungen, mit denen er Umgang hatte, laut und streitsüchtig, stand er still abseits. Mit ruhigem Blick betrachtete er die wild gestikulierenden Gestalten seiner Kameraden. Er interessierte sich nicht sonderlich für das, was passierte, und manchmal fragte er sich, ob er sich überhaupt je für etwas interessieren würde. Als er nun im Halbdunkel am Fenster stand und den Bäcker beobachtete, wünschte er sich, von etwas tief aufgewühlt zu sein, und wenn es nur die verdrossenen Wutanfälle wären, für die Bäcker Groff bekannt war. «Es wäre für mich besser, wenn ich mich über etwas aufregen könnte und mich so wie der geschwätzige Tom Willard über Politik ereifern könnte», dachte er, als er vom Fenster weg trat und weiter durch den Flur zu dem Zimmer ging, in dem sein Freund George Willard wohnte.
    George Willard war älter als Seth Richmond, doch in der ziemlich eigenartigen Freundschaft zwischen den beiden war immer er der Werbende und der Jüngere der Umworbene. Die Zeitung, bei der George arbeitete, folgte einem Grundsatz. Sie war bemüht, in jeder Ausgabe so viele Einwohner des Orts wie möglich mit Namen zu nennen. Wie ein aufgeregter Hund lief George Willard umher, notierte auf seinem
Papierblock, wer geschäftlich in die Bezirkshauptstadt gefahren oder von einem Besuch in einem Nachbarort zurückgekehrt war. Den ganzen Tag vermerkte er kleine Begebenheiten auf seinem Block. «A. P. Wringlet hat eine Lieferung Strohhüte erhalten. Ed Byerbaum und Tom Marshall waren Freitag in Cleveland. Onkel Tom Sinnings errichtet auf seinem Grundstück in der Valley Road eine neue Scheune.»
    Die Vorstellung, dass George Willard einmal Schriftsteller würde, hatte ihm in Winesburg einen Ehrenplatz eingetragen, und mit Seth Richmond redete er unablässig darüber. «Es ist das leichteste aller Leben», erklärte er und wurde dabei ganz aufgeregt und prahlerisch.«Man geht dahin

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