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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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den schwachsinnigen Turk Smollet, der eine Schubkarre die Straße entlangschob. Der alte Mann mit seinem lächerlich jungenhaften Verstand hatte auf der Karre ein Dutzend langer Bretter, die er, die Straße entlanghastend, mit äußerstem Geschick balancierte. «Nur langsam, Turk! Ganz vorsichtig, alter Knabe!», schrie der Alte sich selbst zu und lachte dabei so sehr, dass die Ladung Bretter gefährlich wackelte.
    Seth kannte Turk Smollet, den nicht wirklich gefährlichen alten Holzfäller, dessen Eigenheiten dem Kleinstadtleben so viel Farbe verliehen. Er wusste, Turk würde, wenn er auf die Main Street trat, zum Zentrum eines Wirbels aus Rufen und Bemerkungen werden und dass der alte Mann in Wahrheit weite Umwege auf sich nahm, um durch die Main Street zu fahren und sein Geschick beim Schieben der Bretter zu zeigen. «Wenn George Willard hier wäre, hätte er einiges dazu zu sagen», dachte Seth. «George gehört zu dieser Stadt. Er würde Turk etwas zurufen, und Turk würde zurückrufen. Beide wären sie insgeheim erfreut über
das, was sie gesagt hätten. Bei mir ist es anders. Ich gehöre nicht dazu. Ich werde kein Aufhebens darum machen, aber ich werde von hier verschwinden.»
    Seth stolperte durch das Halbdunkel weiter und fühlte sich in seiner eigenen Stadt als Außenseiter. Er bemitleidete sich, doch er spürte auch den Widersinn seiner Gedanken und musste lächeln. Am Ende kam er zu dem Schluss, dass er einfach alt war für seine Jahre und es keinen Grund zum Selbstmitleid gab. «Ich bin dazu geschaffen, um arbeiten zu gehen. Ich dürfte in der Lage sein, mit regelmäßiger Arbeit einen Platz für mich zu finden, also mache ich mich lieber gleich dran», beschloss er.
    Seth ging zum Haus des Bankiers White und blieb im Dunkeln vor der Eingangstür stehen. An der Tür hing ein schwerer Messingklopfer, eine Neuerung, die von Helen Whites Mutter, die auch einen Frauenverein zum Studium der Poesie organisiert hatte, im Ort eingeführt worden war. Seth hob den Klopfer und ließ ihn fallen. Dessen schweres Klappern klang wie ferne Gewehrschüsse. «Wie tollpatschig und töricht ich doch bin», dachte er. «Wenn Mrs White an die Tür kommt, werde ich nicht wissen, was ich sagen soll.»
    Doch dann kam Helen White an die Tür und sah Seth am Rand der Veranda stehen. Freudig errötend trat sie vor und schloss leise die Tür. «Ich verschwinde aus der Stadt. Ich weiß nicht, was ich tun werde, aber ich verschwinde von hier und gehe arbeiten. Ich glaube, ich gehe nach Columbus», sagte er. «Vielleicht besuche ich dort auch die staatliche Universität. Jedenfalls werde ich gehen. Noch heute Abend werde ich es
Mutter sagen.» Er zögerte und sah sich zweifelnd um. «Hättest du vielleicht etwas dagegen, ein wenig mit mir spazieren zu gehen?»
    Seth und Helen spazierten unter den Bäumen durch die Straßen. Dicke Wolken trieben über das Angesicht des Mondes, und vor ihnen, im tiefen Zwielicht, schritt ein Mann mit einer Leiter über der Schulter. Der Mann eilte bis zur Straßenkreuzung, wo er die Leiter an den hölzernen Laternenpfahl lehnte und die Lampen im Ort entzündete, sodass ihr Weg von den Lampen und den tiefer werdenden Schatten der Bäume mit ihren niedrigen Ästen halb erleuchtet war, halb im Schatten lag. In den Wipfeln der Bäume begann der Wind zu spielen und die schlafenden Vögel aufzuschrecken, sodass sie mit klagenden Rufen umherflogen. In dem beleuchteten Bereich vor einer der Lampen kreisten zwei Fledermäuse und verfolgten den dichter werdenden Schwarm der Nachtfliegen.
    Seit Seth Kniehosen trug, hatte es eine halb ausgesprochene Vertrautheit zwischen ihm und dem Mädchen gegeben, das nun zum ersten Mal neben ihm ging. Eine Zeit lang war Helen von der Tollheit heimgesucht gewesen, Briefchen zu schreiben und an Seth zu adressieren. Er hatte sie in seinen Büchern in der Schule versteckt gefunden, und eines hatte ihm ein Kind auf der Straße gegeben, während ihm etliche andere durch die örtliche Post geliefert worden waren.
    Die Briefchen waren in einer runden Jungenhandschrift geschrieben und verrieten einen von Romanlektüre entflammten Geist. Seth hatte sie nicht beantwortet, obwohl er von einigen der Sätze, die mit Bleistift
auf das Briefpapier der Bankiersfrau gekritzelt waren, bewegt und geschmeichelt gewesen war. Er steckte sie in die Jackentasche und ging die Straße entlang oder stand am Zaun des Schulhofs, etwas Brennendes an der Seite. Er fand es schön, dass das reichste und

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